Dieser 1992 erstmals erschienene Roman ist schlicht ein großartiges Stück deutscher Literatur in Tradition von Manns „Buddenbrooks“. Über drei Generationen hinweg verfolgt Martin Mosebach das Leben zweier Familien im Frankfurter Westend in der Nachkriegszeit.
Alfred Labonté wächst nach dem Tod seiner Mutter und dem Verschwinden seines Vaters bei seinen Großtanten auf. Die Familie zehrt noch vom Ansehen seines Urgroßvaters, der einen allseits bekannten Kolonialwarenladen führte.
Lily Has dagegen ist die Tochter eines Kunstsammlers und gezwungenermaßen Nutznießers des Familienvermögens, welches seine Mutter in einer Haus- und Grundstücksverwaltung festlegen liess.
Zwei Familien, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten: die Schwestern Labonté, die Wert legen auf Anstand, Manieren und Traditionen, die einen Haushalt führen, in dem nahezu alle Handlungen vorherbestimmt sind und immer noch den Regeln ihres Vaters folgen, stehen im Grunde für das Leben vor dem Krieg. Lilys Vater Eduard dagegen stammt zwar auch aus einer traditionsreichen Familie, wurde aber von seiner Mutter von den Geschäften ferngehalten und hat nun einen Vorstandsposten in der „Verwaltung“, deren wahre Leitung jedoch in den Händen seines Vetters Fred Olenschläger nebst Sekretärin liegt. In dem Versuch, sich freizuschwimmen, beginnt Eduard moderne Kunst zu sammeln und wendet sich überhaupt von allen Familientraditionen ab.
Diese Zusammenfassung ist allerdings nur grob und wird der Vielschichtigkeit des Romans keineswegs gerecht. Denn Mosebach erzählt nicht nur eine Familiengeschichte, nein, er betrachtet aus dem Kleinen das Große, schafft ein Panorama der deutschen Nachkriegszeit aus den Menschenschicksalen, den Veränderungen im Viertel, in der Stadt, in der Welt. Die Zeiten ändern sich, ein Menschenschlag stirbt aus, ein anderer entsteht, Häuser werden abgerissen, eine neue Architektur wird umgesetzt, Beton ist nun á la mode.
Als Kind hatte ich ein Bilderbuch über einen Bauernhof im Wandel der Zeiten. Und ein wenig habe ich mich daran erinnert gefühlt bei der Lektüre. Jede Seite zeigte eine weitere Modernisierung. Die Nachkriegszeit brachte ähnlich rasante Änderungen und nicht alle Menschen konnten ebenso rasant umdenken.
Martin Mosebachs Charakterzeichnungen sind grandios: vom Hausmeister mit obligatorischem Schäferhund über den nur äußerlich weltmännischen Architekten bis zur Geliebten Has‘ mit dem goldenen Haarkranz, alle sind einerseits Individuen mit persönlichen Neigungen und andererseits Stellvertreter ihrer Art.
Hinzu kommen die elegante Sprache, der feine Humor und die Tatsache, dass der Roman trotz seiner fast 900 Seiten keine Sekunde langatmig ist, sondern durchgängig auf seinem hohen Niveau bleibt, mit einem Erzählfluss, wie man ihn nur ganz selten noch erleben darf. Ein sprachliches und erzählerisches Meisterwerk mit einer beeindruckenden stofflichen Dichte!
Wer sich für dieses Kapitel deutscher Geschichte interessiert, abseits von Petticoat und Italiensehnsucht, dafür detailgenau und tiefgehend, der zumindest einen Blick werfen in dieses Buch, dass mir durchgehende Lesefreude bereitet hat.
Infos zum Buch:
Westend
Martin Mosebach
erschienen am 19.02.2019 im Rowohlt Verlag
ISBN 9678-3-498-00105-6
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