Kaukasische Bibliothek

Erzählungen Nach einer Auswahl von Dato Barbakadse und mit einem Vorwort von Nana Trapaidse

von ,

Nana Trapaidse

Die Stimmen und die Leere

„Womöglich ist auch der Tod bloß eine Art der Schönheit
oder die Schönheit ist die Gabe eines Gemarterten,
die Gabe, mit dem Tod allein zu bleiben.“

Mika Alexidse

„Man spricht nicht über den Tod“

Die Sammlung der Erzählungen von Mika Alexidse wurde zum ersten Mal 1985 herausgegeben. Eine weitere folgte 1985. In den georgischen Druckmedien wurden sowohl seine Erzählungen als auch seine Gedichte regelmäßig veröffentlicht. Auch wenn Mika Alexidse zu seiner Zeit kein unbeschriebenes Blatt war, erregte seine psychologische Prosa sowohl die Gemüter der damaligen Leser als auch die seiner Kollegen. Dennoch wurde er von den georgischen Literaturkritikern der Vergessenheit ausgeliefert. Auch solche Paradoxe sind Teil georgischer Literaturgeschichte. Und so entstand bei mir beim Lesen dieser Erzählungen das Gefühl der Überraschung, so ähnlich, wie man vor etwas Großem und Unerwartetem steht: Wie ist das denn nur möglich?

Ich las in der Vollkommenheit der Erzählungen Mika Alexidses die schönen und weniger schönen Geheimnisse der menschlichen Seele. Neben diesen Geheimnissen und der Schönheit der Seele auch jene Ungerechtigkeiten, in die das Schicksal der Erzählungen und auch ihres Autors verwickelt wurden. Leider blicken wir heute auf ein fünfundzwanzigjähriges Schweigen zurück, auf das Vergessenwerden, das diese seltenen Werke aus der Literaturwelt entfernt hatte.

Mika Alexidses Erzählungen wurden in den 1980er-Jahren geschrieben. Das war die Zeit der historischen Bewegungen: Die Sowjetunion „veränderte sich“, nationale Bewegungen und die Zeit des gesellschaftlichen Bebens kamen auf. Damals wurden die Menschenmassen von globalen Denkströmungen so angetrieben, als würden sie in deren Willen agieren. Gerade große Ereignisse machen aus einem Menschen eine Marionette, nur so zum Vergnügen. Je stärker die Strömung und je breiter das Flussbett ist, desto größer ist die Illusion der Freiheit. Die heftigen gesellschaftlichen Aufregungen der 80er- und 90er-Jahre waren das schwere Los derer, die in diese Strömung der Zeit geraten waren, mit der gesellschaftlicher Psychose und den tragischen Folgen der Bürgerkriege. Als hätte gerade hier, in dieser nationalen Hölle das Epizentrum des menschlichen Daseins gelegen, aber hinter dem lärmenden Vorhang der Zeit zeigt der Negativ-Film der Geschichte ein anderes Bild und zwar davon, dass die wahre Wahrheit hinter den Schritten der Zeit läuft, und für diese Wahrheit gibt es keine größere Sünde und Feigheit als die blinde Kraft, mit der sich die Menschen vor verbotener Reinheit des Erwachsenseins und der Fülle schützen.

In Mika Alexidses Erzählungen werden keine Geschichten erzählt. Sie werden nicht deswegen nicht erzählt, weil der Literatur der Erzählstoff ausgegangen sei, sondern hier werden die Erzählungen anders behandelt: Die Menschen in der Erzählung haben keine Geschichten. Sie selbst sind die Geschichte. Diese Erzählungen sind das Ritual jeder ihrer Bewegungen, ihrer Gestik und ihrer graziösen Traurigkeit. Sie werden im literarischen Gedächtnis der Sprache eingefangen und unsterblich gemacht.

Es ist sehr schwer, das Genre dieser traurigen Erzählungen zu definieren. Hier gibt es keine Flucht oder psychologische Kämpfe. Viel mehr sind es Geschichten des Gehorsams gegenüber der Freiheit. Sie sind wie eine riesige Meuterei wegen der Missverständnisse, die manchmal im Schicksal der Menschen auftauchen und zum Kampf gegen die intakte Lage der Gerechtigkeit, Schönheit und Güte auffordern. Hier beginnt die dramatische Geschichte des Ungehorsams gegenüber der Freiheit: In der Gefängniszelle der Zeit bleibt die Liebe stets außerhalb. Das zwingt uns dazu, nicht zu kämpfen, sondern den inneren Gesetzen der Freiheit zu gehorchen, die vom Glauben begleitet werden, dass die Zeit eh von allein vorüber gehen wird, die Zeit eh den Raum verlassen wird, in den sie nicht reingehört. Die Erzählungen sind dennoch weder optimistisch noch pessimistisch. So einen Fokus der Anschauung besitzen sie nicht. Sie besitzen ihre eigene Anschauung und wenn sie irgendwohin schauen, dann wiederum in ihre eigenen Augen, aus denen die Protagonisten stets auf ihre ewige Kindheit zurückblicken.

Die Wahrheit, in der die Blicke verwandter Seelen aufeinander treffen und einander erkennen, ist derart zart und hüllenlos, dass sie in der schizophrenen Agonie der nervlichen Anspannung diesen nicht existierenden Körper dennoch erschüttern kann. Ein Krieg zwischen der großen Liebe und der großen Angst bricht aus. In dem aber trotzdem der Mensch gewinnt. Das bedeutet, hier gewinnt seine Einsamkeit, diese unvollkommene Frucht der Glückseligkeit, die uns daran erinnert, dass die Liebe die Heirat des Todes und des Lebens bedeutet, dass für sie andere Eltern nur ein Surrogat sein kann.

Die Erzählungen Mika Alexidses tragen etwas Unerwartetes in sich: Zwar folgen die Sujets den dramatischen Linien der Seele und des Schicksals von Protagonisten, die immanente Empfindung der Texte ist aber dennoch episch. Diese ganzen seelischen Risse und Erschütterungen, diese ganze Wahrheit über die Einheit der Welt, werden von der Erfahrung ihrer Größe und ihrer Großartigkeit gesehen. Diese ungewöhnliche Synthese zwischen der seelischen Dramaturgie und der epischen Sicht ist ein Teil der Dynamik der Syntax. Wie ein musikalisches Thema, das sich zu seinem Kontrapunkt hinarbeitet. Wenn wir der Psychologie literarischer Empfindungen folgen, so wird die wahre Literatur nicht durch ihren Inhalt, sondern durch ihre Form dargestellt. Das, was der förmliche Optimismus ist, ist schon der Glaube, und was der Inhalt ist, ist lediglich die Hoffnung. Mika Alexides Erzählungen versprechen nicht die Hoffnung, sie hoffen einfach. Deshalb ist ihre literarische Sprache darstellerisch und schauspielerisch. Sie stellen eine Art Feier der Performance dar, in der die sprachliche Handlung und die literarische Stimme sich der tiefsten und zartesten Kräfte der inneren Bewegungen, der Energie und des Gemüts bedienen.

In der Komposition dieser Erzählungen sind das Erzählen und der Stoff unzertrennlich. In der thematischen Empfindung überdecken sie sich gänzlich. Beispielsweise in der Erzählung „Babuschi“ wird die Welt aus den Augen eines Zwölfjährigen gezeigt, die den Stempel des abgebrannten Hauses, des Halbwaisen und des Gefängnisses trägt.

Babuschi wollte von dem abgebrannten Haus berichten, wollte jede Einzelheit erzählen, die er gesehen hatte. Im Moment konnte er sich gar nicht vorstellen, dass seine Erzählung nach einer ganz kurzen Zeit völlig an Bedeutung verlor. Das Leben, das vom Gewehrlauf abhing, zog sich in die Länge und ließ ihre Stimmen und Körper so flattern wie einen Zeitungsfetzen der Wind. Man hätte jedem von ihnen einen Namen geben können, unter anderem auch Freiheit. Deshalb wurde dieses Wort von keinem mehr erwähnt und wurde somit auch nicht mehr zum Gesprächsthema. Die Quelle ihres tiefen Bedauerns lag im verkohlten Haus von Babuschis Nachbarn und er glaubte, sie hätten unendlich darüber sprechen können. Hier aber bekam er zu hören: „Wer braucht schon ein Haus?“ und spürte, wie der Rauch, trüb und zerfetzt, mit dem Wind zusammen aufstieg und sich sehr weit mit dem Nebel mischte …
(„Babuschi“)

Georgien ist ein Land des Meeres und der Berge. Die westliche Grenze verläuft entlang des Schwarzen Meeres, im Norden ist das der Kaukasus, wo einst die Götter den mythischen Amiran (den griechischen Prometheus) angekettet haben sollen. Daher erscheint es mehr als selbstverständlich, dass sich die symbolische Denkweise hier durch das Meer und die Berge auf natürlichem Wege äußert. In der Literatur sind das Meer und die Berge überwiegend geografische Teile (aber keine zufälligen). Ihre konzeptuelle Verwandlung, wie es in Thomas Manns „Der Zauberberg“, Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ oder Melvilles „Moby Dick“ geschieht, ist selten in der georgischen Literatur. Hier ist die Tradition der Berge weitaus häufiger als die des Meeres. Natürlich gibt es das Meer in Galaktion Tabidses Gedichten und in Otar Tschiladses Prosa. Die Leere dieses Kontexts wird von Mika Alexidses Erzählung „Man spricht nicht über den Tod“ gefüllt, die vollkommen durch die Thematik des Meeres inspiriert worden war, genauer gesagt, durch die Mystik des Meeres und die Poesie.

In Mika Alexidses Erzählungen wird die ganze Welt als ein Teil der emotionalen Empfindungen dargestellt. In diesen Empfindungen wird sie geboren und lebt weiter. Deshalb sind objektive Gegenstände, das seelische Drama und die literarische Lyrik in ihrer natürlichen Ganzheit eine ontologische Gegebenheit. Anders kann es nicht kommen. Daher wird zum Beispiel nicht zwischen der Frau und dem Meer unterschieden, als zwei Ähnlichkeiten, die sehr wertvoll sind, und in dieser Ähnlichkeit das unausweichliche Dilemma des Zweikampfes und der gegenseitigen Unterwerfung zwischen der Liebe und der Freiheit darstellen.

In der poetischen Welt der Erzählungen von Mika Alexidse ist auch die Empfindung der Natur äußerst tief und neuartig. In dieser Hinsicht ist die ganze georgische Literatur sehr reich. Wir könnten sagen, dass mit dem Thema der Natur die georgische Literatur nicht nur die Erfahrungen anderer Literaturen durchgemacht, sondern auch ihre eigenen, vollkommen einzigartigen literarischen Realien geschaffen hat, die noch heute an ihrer Aktualität nichts eingebüßt haben. Sowohl die Berge, als auch das Flachland, hoch sowie niedrig, bekannt und unbekannt stehen im postkolonialen Kontext …

Neben dieser konzeptuellen Dichotomie gibt es auch einen Dialog des Menschen mit der Natur und die lyrische Tradition seiner anthroposophischen Sichtweise. Ein unverzichtbarer Bestandteil dieser Tradition sind auch die Erzählungen von Mika Alexidse.

Wenn die Literatur neben all dem auch die Welt der Gedanken, Emotionen, unerwarteter Bund der Wörter und unerwartete Lage der Gegenstände ist, dann ist Mika Alexidse ein wahrer Künstler dieses Unerwarteten. In den seelischen Erfahrungen dieser unerwarteten Bündnisse liegt ihre Kraft, die den Abgrund der Welt berühren und ihr Geheimnis lüften konnte. Anders vermag es keiner, die Erotik und die entgegengesetzten Positionen der Zeit und der Leere auf so eine künstlerische Weise darzustellen, wo „Liebe“, „Geschichte“ und „Nichts“ durch ihre zusammenhängende Natur eine ambivalente Dichotomie zwischen dem Leben und dem Tod darstellt und mit einem scharfen Blick einen Bogen bis zu den Pathologien des menschlichen Schicksals spannen kann. Zum Beispiel die Politik als Pathologie, wo die gesunde Sicht von der Weltordnung getrübt wird. Hier, in diesem literarischen Zwischenkontext werden die Freude des Menschen über die Ganzheit der Welt und die Schönheit der Natur und seine schmerzhafte Trauer der leeren Realität, die gerade Kopf steht, herausgelesen.

Was ist denn die Literatur, wenn nicht die Illusion der Tilgung der Grenze zur Realität. Genau gesagt, die Übersetzung der Wahrheit, die nicht verpflichtet ist, das triviale Bild der Welt direkt zu wiederholen. Deshalb ist es die Aufgabe auch der „Übersetzung“, mehr zu sein als das „Original“. Die Literaturgeschichte ist eine Geschichte dieser Pflichtkunst. In der Erzählung Mika Alexidses „ Das Festmahl des Schweigens“ ist das Schreiben ein Teil des Lebens, das selbst schon ein literarischer Akt ist. Hier ist das Schreiben weder eine Zusammenfassung noch eine Fortsetzung einer Geschichte. Sie ist vollkommen in die Gesetze des Lebens involviert:

„Ich habe den Himmel schon lange nicht mehr so ruhig angeschaut. Sah ich früher hoch, so trübte er sich, brauste vor meinen Augen auf, bedeckte mich, ließ mich den Kopf verbeugen, ließ mich einem armen Stier ähnlich aussehen. Dann nahm er mich in die Finsternis mit. Dann war ich nur noch eine Handvoll dunkler Fleck. Er warf mich so erbarmungslos auf die Erde, dass ich nicht einmal aufschreien konnte. Auch ein Stier bekommt keine Gelegenheit für eine Beichte … In dem bleifarbenen Himmel sah ich nicht die Poesie, sondern einen kleinen Fleck, der sogleich auf die Erde stürzen würde … So begann in meiner Jugend eine harmlose Erzählung, für die ich später keine passende Überschrift finden konnte und sie dann irgendwie „Christusaugen“ nannte. Das war eine besonders kindische, naive Erzählung über einen einfachen Menschen, der nicht nur keine eigene Sünde, sondern keine eigene Hure hatte, nicht einmal für eine Nacht. Aber dennoch hörte er völlig unerwartet in der Abenddämmerung auf der Straße: „Du ähnelst Nichts mehr, mein Kind“ („Das Festmahl des Schweigens“).
Danach lesen wir die schönste Poesie: Wie die Nicht-Existenz die Ephemere der Existenz hervorruft, der Tod den Mythos des Lebens, und dass letztendlich das Leben in seiner weisen Unvollkommenheit die zarten Furchen der Glückseligkeit in den Schmerz und in die Nicht-Existenz zieht. Die komplizierte Angelegenheit der Liebe, die wir in dieser Geschichte antreffen, ist das Erkennen des weltlichen Lichts von ihrer dunklen Seite her. Hier wird die ganze Welt auf den Kopf gestellt, alles bis ins kleinste Detail zerlegt, damit sie Kleinigkeit ihres Wesens jede Kleinigkeit ihrer Empfindungen übernimmt.

Wie soll Musik erzählt werden? Genauso schwer ist es, die Erzählungen Mika Alexidses nachzuerzählen. Diese sollten unmittelbar erlebt werden. Und dennoch! Wovon möchten uns diese Erzählungen berichten? Wahrscheinlich davon, wie die Welt atmet, oder davon, dass die Poesie eine Arterie des Lebens darstellt, durch die das Weltleben fließt und die sinnlose Fülle des Lebens an der Seite liegen lässt. Die es vermag, trotzig und mit angehaltenem Atem weiterzufließen, damit sie irgendwo, irgendwie, in einem ganz persönlichen Schicksal der Menschen das Ewige und das Zeitweilige aufeinander treffen und sich einen lässt …