Leseprobe:
„Weit, weit im Osten, dort, wo die Sonne am Morgen ihre ersten Sonnenstrahlen in die Welt schickt, lebt der Nachterzähler. Er wohnt in einem Haus mit vielen bunten Teppichen. Wenn er nicht gerade isst oder schläft, dann sitzt er auf einem großen roten Kissen auf dem Boden und raucht seine lange Pfeife.
Keiner weiß, woher der Nachterzähler gekommen ist. Irgendwann war er einfach da.
Keiner kennt seinen Namen. Alle nennen ihn nur den Nachterzähler.
Die Leute in der Stadt sagen: „Er hat die ganze Welt gesehen!“ Aber das kann nicht sein, denn der Nachterzähler ist blind. Er sieht nicht, ob es Tag oder Nacht ist, ob die Sonne scheint oder der Himmel voller Wolken ist. Und er sieht auch nicht die Sterne am Nachthimmel.
Aber der Nachterzähler kann die Welt hören und riechen und fühlen und schmecken. Alle Leute in der Stadt sind sich einig: „Wir sind froh, dass wir ihn haben, denn er kennt die allerbesten Geschichten!“
Das stimmt. Der Nachterzähler hat nämlich eine besondere Fähigkeit: Jeden Monat wächst in ihm eine neue Geschichte – genau im Rhythmus des Mondes. Ganz am Anfang, wenn der Mond schmal wie eine Sichel ist, fällt dem Nachterzähler der erste Satz einer Geschichte ein. Ist der Mond als halbe Scheibe am Himmel zu sehen, kennt er schon die Hälfte der Geschichte, aber die spannendste Stelle und der Schluss fehlen noch. Am Tag des Vollmondes erzählt er dann schließlich die ganze Geschichte von Anfang bis Ende.
Seit langer Zeit kommen die Menschen jeden Monat bei Vollmond ins Haus des Nachterzählers. Mit der Abenddämmerung finden sich alle bei ihm ein und setzen sich auf die bunten Teppiche, um zu lauschen.“
- Veröffentlicht am Mittwoch 1. Oktober 2008 von Horncastle, Mona
- ISBN: 9783938822166
- Genre: Kinder- und Jugendbücher, Märchen, Sagen