Das kleine Holzhaus am Ende des Dorfes war seit vielen Jahren unbewohnt. Die Fensterläden waren geschlossen. Der Garten war im Laufe der Jahre verwildert und die Kinder hatten ihn als Spielgelände erobert. Zwischen den Büschen und Sträuchern konnte man sich wunderbar verstecken und in der anschließenden Wiese, zwischen den Apfelbäumen, herrlich Ball spielen. Dahinter begann der Wald. Das Haus selbst hatte sich ihnen widersetzt. Die braune Holztür hielt standhaft jeden Eindringling ab. Und auch die Fensterläden ließen keinen Blick ins Innere zu. Generationen von Kindern hatten versucht hineinzukommen, keinem ist es jemals geglückt. Niemand wusste, wem Haus und Wiese gehörten. Nie war jemand zu sehen. Doch eines Tages brannte Licht in einem der Fenster, und das sorgte für erhebliche Unruhe.
Am nächsten Tag waren gar die Fensterläden geöffnet und auch die Tür. Die Fenster blinzelten vergnügt in die Sonne. Bald drang fröhliches Singen in den Garten. Es war, als wäre das kleine Haus nach langem Schlaf plötzlich aufgewacht, und jeder sprach darüber.
»Sie ist zurückgekommen«, tuschelten die Ältesten hinter vorgehaltener Hand.
»Wer ist zurückgekommen?«, fragten Klara und Michael.
Ihre Mutter wusste es nicht. Auch sie hatte schon in dem Garten gespielt, doch nie jemanden gesehen.
»Vielleicht weiß es Großmutter.«
Großmutter Hanna wirkte nachdenklich und hatte den Blick, den sie immer bekam, wenn sie sich an weit zurückliegende Zeiten erinnerte.
»Als ich ein Kind war, lebte dort eine Frau. Sie war sehr groß und schlank und schweigsam. Wir hatten alle Angst vor ihr. Manche erzählten gar, sie wäre eine Hexe.«
Klara und Michael reagierten erstaunt. Tatsächlich hatte sie das Haus immer schon an ein Hexenhaus erinnert, wenn sie auch längst wussten, dass es Hexen nur im Märchen gab.
»Hast du das auch geglaubt?«
»Wir konnten es nicht herausfinden. Keiner hat sich in die Nähe des Hauses gewagt. Niemals hat jemand mit der Frau gesprochen, und eines Tages war sie verschwunden und alle waren froh.«
»Könnte sie tatsächlich zurückgekommen sein?«
»Das ist kaum vorstellbar.«
Wie alt müsste die Frau inzwischen sein? Konnte sie überhaupt noch leben? Wenn Großmutter damals ein Kind war, dann war das doch mindestens 70 Jahre her.
»Dann wäre sie heute über hundert Jahre alt.«
Klara gruselte es.
»Wir werden es herausfinden«, sagte Michael entschlossen. Inzwischen hatten auch Mario, Stefan und Sophie die seltsamsten Geschichten gehört. Genaues wusste niemand. Doch wie immer, wenn sich die Decke von einem Geheimnis zu lüften beginnt, stieg die Spannung mit jeder kleinsten Veränderung, die um das Haus geschah.
»Lila Braun«, stand jetzt deutlich auf dem Briefkasten und neben der Klingel. Bald wussten es alle. Eine junge Frau wohnte in dem Haus und wie eine Hexe sah sie überhaupt nicht aus, dann schon eher wie Schneewittchen. Sie hatte lange schwarze Haare.
»Was für schöne Kleider sie trägt«, schwärmte Sophie, »wie eine Prinzessin.«
»Wenn man Faschingsprinzessinnen schön findet«, meinte Michael.
»Wer heute in solchen Kleidern herumläuft, muss einen Knall haben«, stellte Mario fest.
Klara fand es auch merkwürdig, dass die junge Frau keine Jeans trug, und trotzdem gefiel es ihr. Ähnliche Flatterkleider trug ihre Mutter auf alten Bildern, als ganz junge Frau.
»Vielleicht lässt sie sich ja wieder vertreiben«, sagte Mario. Und sie begannen zu überlegen.
- Veröffentlicht am Sonntag 18. März 2012 von Brendle, Christine
- ISBN: 9783981249743
- 95 Seiten
- Genre: Kinder- und Jugendbücher, Kinderbücher bis 11 Jahre