Es ist noch gar nicht so lange her, dass Wirtschaftsbosse, Politiker und Journalisten sich aufmachten ins gelobte Silicon Valley, dort Wirtschaftsprozesse neu lernten, mindestens ihre Krawatten ablegten, sich manchmal einen Vollbart zulegten und nach ihrer Rückkehr zu Hause erklärten, wie wir der digitalen Vormachtstellung der USA oder besser gesagt der big five Amazon, Alphabet, Apple, Facebook und Microsoft begegnen sollen.
In einer zweiten Welle war Christoph Keese für ein halbes Jahr drüben und hat seine Erfahrungen und Erkenntnisse in seinem Buch Silicon Valley zusammengefasst.
Das besondere an Keeses Zugang ist der Umstand, dass er nicht zurückkam, um die „alte Welt“ umzukrempeln. Er kam zurück, um zu erklären, wie die Mechanismen des Silicon Valley funktionieren, wo die Erfolgskomponenten liegen und wo sie an ihre Grenzen stoßen. Diese Herangehensweise erforderte eine intensive Recherche im Umfeld der erfolgreichen digitalen Unternehmen, ihrer Basis an den Hochschulen und den besonderen Finanzierungsmethoden. An dieser Recherchereise lässt Keese den Leser teilhaben.
Im Ergebnis stellt er sowohl für den interessierten Laien, aber auch für den fortgeschrittenen digitalen Nerd dar, wie dieses Silicon Valley tickt, wo die großen Unternehmen nicht mehr einzuholen sind und wo die Chancen der europäischen und insbesondere der deutschen mittelstandsgeprägten Industriegesellschaft liegen. Das macht Keese weder in Erstarrung vor dem Erfolg des Silicon Valley noch mit erhobenem Zeigefinger gegenüber der europäischen old economy.
Nach diesem Blick hinter die Kulissen kann der Leser mitreden, wenn es um disruptive Unternehmensstrategien geht, wie brutal die Start-up-Finanzierung in den USA funktioniert, wie die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Unternehmen abläuft, welche Auswirkungen der digitale Welterfolg der US-Unternehmen auf die Arbeitswelt hat und wie glaubwürdig der Slogan von Facebook und Co ist, dass es ihnen weniger um Profit als vielmehr um die Verbesserung der Welt ginge.
Erfreulich ist, dass es Keese weder um eine Abrechnung noch um eine grundsätzliche europäische Systemveränderung geht. Er versteht, dass es europäische Traditionen gibt, die der der einfachen Übernahme des Silicon-Modells entgegenstehen. Keese folgt schlicht dem Ansatz, dass es notwendig ist, ein erfolgreiches Wirtschaftssystem zu verstehen, das einen wichtigen Wettbewerber Europas und insbesondere Deutschlands darstellt. Denn er lässt keinen Zweifel daran, dass es zur Aufrechterhaltung unseres Lebensstandards nötig ist, diesen Wettbewerb erfolgreich zu bestehen. Dabei erklärt Keese, warum es sinnlos scheint, ein neues Google, Facebook oder Amazon aufbauen zu wollen, wenngleich er deren Fortbestehen nicht als gottgegeben ansieht, da auch sie disruptiven Angriffen ausgesetzt sein können. Er erläutert vielmehr, wie das europäische Wirtschaftssystem Elemente des Systemansatzes aus dem Silicon Valley übernehmen und mit den hiesigen erfolgreichen Mechanismen kombinieren kann, um auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu sein. Gleichzeitig macht er klar, dass der Wettbewerb mit den big five nicht bestanden werden kann, wenn wir bei uns nichts ändern.
Insgesamt also ein sehr lehrreiches Buch, das verständlich und nachvollziehbar geschrieben ist. Man muss Keese nicht in allem Folgen. Aber es lohnt, sich mit seinen Beobachtungen auseinander zu setzen. Dabei ist seine Glaubwürdigkeit besonders hoch, da er auch nach Rückkehr aus Kalifornien Krawatte trägt und seinen Rasierapparat benutzt.
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