Zu allen Zeiten, von denen wir Nachrichten haben, und an allen Stellen des Erdballs gab es Mythen, die in den wesentlichsten Zügen übereinstimmen, und alle diese Mythen gehen überall mehr oder weniger deutlich auf Mond und Sonne ein und/oder beziehen sich auf andere Naturmächte. Ihr allgemeiner Charakter ist im wesentlichen überall auf dem Erdball der gleiche, nur durch die verschiedenen Kulturverhältnisse der einzelnen Völker sowie eine Unterschiedlichkeit der Ausdrucksweise verändern sich die Mythen.
Es hat sich als psychologisch wohlbegründete Tatsache ergeben, dass die Mythen Ausdruck ganz realer konkreter Anschauungen sind, nicht etwa dichterisch-phantastische Fiktionen: So wie Schliemann die Sagen wortwörtlich nahm und dadurch Troja fand, so sind Mythen keine Allegorien oder gar symbolische Bilder für sittliche Ideen.
Richtige Naturmythen muss man sehen können, denn sie haben einen Wahrheitsgehalt, sie wollen Wirklichkeiten mitteilen. Der Geist, in dem sie gebildet wurden, war ein außerordentlich naiver, von wissenschaftlichen Kenntnissen völlig unbeeinflusster. Die Vorgänge am Himmel drückte man mit nahe liegenden Wendungen, mit aus der umgebenden Menschenwelt hergenommenen sprachlichen Bildern aus, ohne die Absicht, damit eine poetische Bildersprache schaffen zu wollen. Man hatte nicht die Absicht oder das Gefühl, kühne Vergleiche zu bilden. Mangels besserer Einsicht in das Wesen der Himmelsgestalten nahm man die ihnen zugeschriebenen, oft sehr menschlichen Handlungen ohne weiteres tatsächlich an, man glaubte nicht an eine dahinterliegende, eigentlich anders auszudrückende Wahrheit, womit man eben eine Allegorie ausgesprochen hätte, die dem echten Mythos ganz fern liegt.
Unsere Aufgabe wird es sein, uns auf den Standpunkt einer kindlichen Anschauungs- und Ausdrucksweise zu begeben, um die scheinbar unendliche Menge der Mythen und Märchen zu erklären. Die Häufung verschieden aussehender, aber in ihrem mythologischen Wert gleiche Motive in ein und demselben Sagengebilde ist ein wichtiges Gesetz der Mythenbildung, wie wir bald sehen werden. Darüber hinaus gibt dieses Buch einen umfassenden Überblick über alle bedeutenden Motive, die sich durch den Mythenvergleich als die allerwichtigsten herausgestellt haben.
- Veröffentlicht am Samstag 1. Juli 2006 von Bohmeier, J
- ISBN: 9783890944722
- 88 Seiten
- Genre: Philosophie, RELIGION, Sachbücher