Scripta volant, verba manent

Schriftkulturen in Europa zwischen 1500 und 1900

Lesen und Schreiben sind Kulturtechniken, die im Laufe der Geschichte ganz unterschiedliche Ausprägungen erfahren haben. Sie lassen sich etwa an den handschriftlichen Zeitungen im Venedig des 18. Jahrhunderts, am Diskurs über die Möglichkeiten einer manuskriptgestützten Kommunikation und an der Entwicklung des Titelblattes gedruckter Bücher vor und nach 1500 nachweisen. Der vorliegende Band vereint 25 Beiträge, die die Schriftkulturen in Europa zwischen 1500 und 1900 untersuchen. Dabei stehen Schriftkultur, Kommunikationssysteme, Mündlichkeit und populäre Lesestoffe im Zentrum. Das Themenspektrum reicht vom Verhältnis von Schriftkultur und Volkskultur am Beispiel gereimter Ritterepen im frühneuzeitlichen Italien über die Aufnahme mündlicher Zauberformeln in populären Drucken bis hin zu populären Erzählstoffen wie dem Maister Grillo oder dem deutschen Eulenspiegel in ihrer wiederholten redaktionellen Bearbeitung.
Der Frage nach dem Spannungsverhältnis von Mündlichkeit und Schriftkultur wird anhand der Lesestoffe für den ‚Gemeinen Mann‘ in Dänemark im 17. Jahrhundert, der Vorlesekultur in einer bäuerlichen Kultur im Ungarn der Frühen Neuzeit, des Tagesschrifttums im England des späten 17. Jahrhunderts und der Vorlesepraktiken im 18. und 19. Jahrhundert in der Schweiz nachgegangen.
Die Beziehungen von Handschrift und Buchdruck einerseits und von Handschrift und Gedächtnis andererseits sind das Thema von Aufsätzen über spanische Schreibmeisterbücher, venezianische Familienchroniken und die Publikation italienischer Briefeditionen des 16. Jahrhunderts. Ebenso werden Schreibtafeln in Spanien, eine Art frühneuzeitliches Notizbuch, und ihre Bedeutung für das Gedächtnis behandelt; daneben der ausserordentliche Fall des ‚Graffitomanen‘ Rétif de la Bretonne und ein Korpus anonymer Briefe des 19. Jahrhunderts. Ein Aufsatz untersucht das Phänomen der bäuerlichen Rezeption von Torquato Tassos Gerusalemme liberata in Italien und in Korsika zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert. Am Beispiel von Briefwechseln, der Sonette Shakespeares, der niederländischen Tagebuchkultur des 17. Jahrhunderts sowie der Briefkultur südafrikanischer Wanderarbeiter um 1900 ergründen Aufsätze den Zusammenhang von Schriftkultur und der Konstruktion des Selbst.
‚Scripta volant, verba manent‘ – unter diesem Titel wirft der vorliegende Band die Frage auf, ob nicht – abweichend vom lateinischen Sprichwort von der bleibenden Schrift und den verfliegenden Worten – eher das gesprochene Wort von Dauer sei.