MYNY dokumentiert einen Dialog. Photographische Eindrücke von New York aus den Jahren 1984 bis 2001 werden in Bezug gesetzt zu biographischen Kurzgeschichten, Gedichten und Skizzen von Menschen, die in dieser faszinierenden Stadt gelebt und gearbeitet haben.
New York hat mich für lange Zeit inspi-riert, hat Hoffnungen geschürt, aber auch Ängste und Überdruss. Die Stadt war für mich ein Ort des Potentiellen, weil hier – scheinbar und gerüchteweise – alles zu finden und alles möglich sein soll. Sie hat immer wieder zu noch nie Dagewesenem provoziert. Wenn nicht in New York, wo sonst auf der Welt? Es ist ein fast spirituell anmutendes Versprechen, das die Menschen in diese Stadt zieht, sie vorantreibt, nicht ruhen lässt, ein Teil davon zu sein. Ob es sich erfüllt, entscheidet oft das Tor, durch welches man New York betritt. In der Zeitspanne, die MYNY dokumentiert, bin ich durch sehr verschiedene Türen in die Stadt gekommen. Als neugieriger Besucher, als Unternehmer, als Industrieberater, als Wissenschaftler, als Künstler und flanierender Photograph. Dabei bin ich immer wieder auf Neues gestoßen, habe Menschen kennen gelernt, denen es in New York ähnlich und doch ganz anders ergangen ist. Irgend-wann in den späten 90ern jedoch drängte sich das immer Gleiche, aufdringlich zigfach vervielfältigt, in den Vordergrund. Nach der urbanen Krise in den 1980ern war die Stadt wieder reich und friedlicher geworden. Seitdem wird der Preis für Gentrifizierung und „Disneyfizierung“ von den Bewohnern und Besuchern New Yorks mit einem lachenden und einem weinenden Auge bezahlt. Die weithin sichtbaren Zeichen des materialistischen Mainstreams, prätentiöse Neubauten und eingängig-imposante Ikonen eines auf Konsum und Gewinn gerichteten kleins-ten gemeinsamen Nenners, markieren das Stadtbild. Haushohe, elektronisch animier-te Bildflächen, mächtige Werbeplakate auf Dächern und über Straßen, die immergleichen flagship stores und chain-outlets für Kleidung, Kaffee und Unterhaltung: Im Großen wie im Kleinen entfaltet sich die visuelle Kakophonie aus Texten, Symbolen und Bildern. Graffitis, provokant störende Kontrapunkte in der merkantilen Zeichenlandschaft, werden in Manhattan und den U-Bahnen wieder schnell beseitigt. Die Mieten in Chelsea, im East und West Village, in TriBeCa, NoHo und SoHo sowieso, haben längst ein für Handwerksbetriebe, unabhängige Läden, Musik-Clubs, Künst-
ler-Initiativen und Kultur-Organisationen unerschwingliches Niveau erreicht. „Sanitized New York“, selbstverständlich begrüßt jeder die damit einhergehende Sicherheit auf den Straßen und bedauert zugleich den Verlust inspirierender urba-ner Vielfalt.
Enttäuscht vom schleichenden Verlust all der liebgewonnenen Nischen und Re-fugien hatte ich New York am 31. August 2001 den Rücken gekehrt. An diesem Tag ist das letzte Bild in diesem Buch entstan-den.
Die Anschläge 11 Tage später haben das Stadt- und Selbstbild Manhattans und seiner Bewohner dramatisch verändert. Der so selbstverständliche Blick auf das eigene Glück, die strikte Orientierung an Erfolg und Wohlstand waren plötzlich in Frage gestellt. Mit der Zerstörung der Word Trade-Türme wurde die Immunität New Yorks aufgehoben. Für die meisten wirken die Ereignisse des 9/11 bis heute nach. Bei mir haben sie die beschlossene Abkehr von der Stadt in eine erneute Hinwendung verwandelt. Die Tür, durch die ich nunmehr trat, war die Sorge um die Freunde dort. Wer nach New York will, wer dort lebt und bleiben will, identifiziert und orientiert sich mit bzw. an einem Bild von der Stadt, das aus vielen Facetten besteht. Die Zerstörung individuell wichtiger Teile dieser Komposition ist oft schmerzhaft und enttäuschend, für die kollektive Dynamik New Yorks scheint sie dagegen zentrale Triebkraft zu sein. Aus beidem zusammen lässt sich die ganz besondere Geschichte dieser Stadt erahnen.
2007 habe ich Freunde und Bekannte eingeladen, eine Anekdote oder persönliche Geschichte aufzuschreiben, die sie spontan mit den in Schwarzweiß photographierten Szenen und Motiven in Verbindung bringen. Es hat mich berührt und überrascht, wie meine Bilder tief versunkene Erinnerungen wachrufen konn-ten, sowohl bei Freunden, die heute noch in der Stadt leben, als auch bei jenen, die sie längst wieder verlassen haben.
MYNY ist somit eine Komposition aus der Rückschau. Photographien aus einem vergangenen New York verbinden sich mit den Erinnerungen ganz verschiedener Bewohner dieser Stadt, die wie kaum eine andere, auch bei denjenigen, die nie dort gewesen sind, Bilder und Emotionen hervorzurufen vermag. Auch der Betrachter und Leser hat sein eigenes New York im Kopf, zusammengefügt aus literarischen und medialen Bildern, eigenen Erlebnissen, kollektiven Erfahrungen und einer imaginativen Fortschreibung, die für die Energie und den Optimismus des Le-bens in der Metropole am Hudson River so wichtig sind. „There are more than 8 millions stories in the Naked City”. MYNY erzählt ein paar wenige davon. / Werner W. Lorke
- Veröffentlicht am Montag 22. Dezember 2008 von Edition Esefeld & Traub
- ISBN: 9783980988742
- 212 Seiten
- Genre: Fotokunst, Kunst, Literatur, Sachbücher