Arnhold & Kotyrba Architekturführer

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Hessen ist eine Gemeinde, die im Landkreis Harz im nördlichen Harzvorland direkt an der Grenze zwischen Sachsen-Anhalt und Niedersachsen liegt.
Über die Frühgeschichte der Burg in Hessen können bis heute nur Vermutungen angestellt werden. Die erste nachweisbare Quelle über die Existenz einer solchen stammt aus dem Jahr 1129, in dem die Edelherren von Hessen als Besitzer von Dorf und Schloss genannt wurden. Wie die damalige Burg allerdings aussah, wurde nicht überliefert. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Anfänge des heutigen Schlosses noch vor der ersten Erwähnung Hessens in einer Schenkungsurkunde Kaiser Ottos I. im Jahre 966 zu finden sind. Einige Architektur- und Kunsthistoriker gehen davon aus, dass eine erste Burganlage in Hessen zu Beginn des 10. Jahrhunderts angelegt wurde. Zu dieser Zeit ließ der damalige ostfränkische König Heinrich I. (reg. 919-936) entlang seiner östlichen Reichsgrenze eine Burgenkette als Schutz gegen die Slawen und Ungarn errichten. Von seiner geografischen Lage her könnte Hessen ein Teil dieser Verteidigungslinie gewesen sein.

Erhaltene und archäologisch untersuchte Burganlagen, z.B. die Westerburg oder die Kaiserpfalz Werla bei Schladen, die nachweislich ein Teil der Burgenkette Heinrichs waren, lassen Rückschlüsse auf die Anlage und Gestalt der Burg Hessen zu Beginn des 10. Jahrhunderts zu. Demnach könnte in Hessen eine kreisförmige Befestigungsanlage aus Erdwällen mit Holzpalisaden existiert haben. Ein Nachweis dafür müsste jedoch durch archäologische Grabungen erbracht werden. Die früheste, sicher dokumentierte Bausubstanz am Hessener Schloss ist in die Zeit um 1300 zu datieren. Vermutlich wurde seinerzeit über den Fundamenten des frühromanischen Vorgängerbaus eine Burg errichtet, die den Kern des heute noch erhaltenen Schlossensembles bildet.

Schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts wurde die Burg als eine Anlage mit zwei Höfen mit jeweils ei-nem Bergfried angelegt. Der erste Hof wurde durch eine vierflügelige Kernburg (Oberburg) umfasst. Westlich davon erstreckte sich die dreiflügelige Unterburg, welche sich zu der kompakten Anlage der Oberburg öffnete. Die Unterburg ist als Wirtschaftshof geplant worden. Wie bei Niederungsburgen charakteristisch, umschloss die Anlage ein schützender Wassergraben, wobei die Ober- und Unterburg nicht durch Wasser getrennt waren. Die gesamte Burg wurde von einer ca. 1,80 m starken Ringmauer umgeben, welche gleichzeitig als Fundament der grabenseitigen Außenmauern der Burg diente. Bis auf den im Südosten der Oberburg errichteten Pavillon entstanden alle der heute noch erhaltenen Gebäude sowie die um 1950 abgetragenen Bereiche der Oberburg (Nord- und Westflügel) in ihrer Kernbausubstanz zu Beginn des 14. Jahrhunderts. Mit der ersten Erwähnung der beiden Bergfriede und der Steinscheune an der Nordflanke der Unterburg im Jahr 1355 ist ein sicherer Hinweis auf den baulichen Charakter der Burganlage um 1350 gegeben.

Die in der Mitte des 14. Jahrhunderts vorhandene Bausubstanz verdeutlicht, dass die Burg auch für Wohnzwecke vorgesehen war. Darauf weist eine Beschreibung von 1369 hin, die das “hus to hesnum” als “slot” (Schloss) bezeichnet. Im Zuge des Ausbaus der Hessener Burg wurde 1343 der Hessendamm als Weg über das Große Bruch nach Mattierzoll aufgeschüttet. Der Ausbau des Hessener Schlosses zu einem fürstlichen Renaissanceschloss begann unter Heinrich dem Jüngeren, Herzog zu Braunschweig-Lüneburg (reg. 1514-68). In den Jahren 1535 bis 1538 beauftragte der damalige Pächter Kurt von der Schulenburg den Abriss des “Alde Huß” (Nordflügel der Oberburg), um es durch das “Newe Hause darin der Windelstein und Hoffestuben“ zu ersetzen.

Am Bergfried der Unterburg (Hausmannsturm) wurden eine Uhr (Seyger) sowie eine Glocke angebracht. Das gesamte Schloss wurde mit einem Fachwerkaufbau und Ziergiebeln versehen. Die farbliche Gestaltung des Ensembles war typisch für die Zeit der Renaissance. Das mit einem Schlämmputz überzogene, weiß gestrichene Mauerwerk stand in starkem Kontrast zu dem in schwarz gehaltenen Holz des Fachwerks und den entsprechend gefassten Fenster- und Türrahmungen. Im Übrigen wurde ein mit Schiefer gedeckter Gang zwischen Kanzlei (im Nordflügel der Oberburg) und der Steinscheune angebracht. Das gesamte Schloss war in der Renaissancezeit mit Schiefer gedeckt.

Herzog Julius zu Braunschweig-Lüneburg (reg. 1568-89) setzte die begonnen Umbaumaßnahmen seines Vaters zwischen 1562 und 1568 fort. In diese Zeit fällt der Neubau des Westflügels der Oberburg als fürstliches Repräsentationshaus. Der Turm der Oberburg bekam einen polygonalen, außen liegenden Treppenturm, welcher die südwestliche Hofecke prägte. Im Zuge dieser Baumaßnahme wurde der Turm der Oberburg mit drei Turmzimmern versehen. Unmittelbar neben dem Treppenturm entstand innerhalb des Südflügels eine dreigeschossige Loggia. In die Zeit von Herzog Julius fallen auch die Errichtung der Treppentürme in den Ecken zwischen Nord- und Ostflügel sowie Ost- und Südflügel der Oberburg und die Anlage weiterer Renaissancetreppenhäuser, von denen heute keines mehr erhalten ist. Im Eingangsbereich des Herrenhauses sowie an der Nordwest- und der Südostecke der Steinscheune entstanden weitere Wendeltreppen.

Das gesamte Schloss wurde mit neuen Fensteröffnungen versehen, welche wohl z.T. an Stelle älterer und kleinteiligerer Fensteröffnungen in das mittelalterliche Mauerwerk gebrochen wurden. Die gesamte Oberburg wurde mit den für die deutsche Renaissancearchitektur charakteristischen Zwerchhäusern ausgestattet. Die Unterburg wurde weiterhin als Wirtschaftshof genutzt. In der Mitte dieses Hofes stand ein Brunnen mit “Wasserkünsten”. Der Schlosshof der Oberburg erinnert in seiner Gestaltung unter Herzog Julius mit seinen Eckwendel-steinen, der Loggia und den Zwerchhäusern an den „Großen Schlosshof” des Residenzschlosses in Dresden, welcher zwischen 1548 und 55 gestaltet wurde. An den Baumaßnahmen der 1560er Jahre wird erstmals der spätere Hofbaumeister Paul Francke (1538-1615) im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel greifbar.

In dritter Generation führte Herzog Heinrich Julius (reg. 1589-1613) den Ausbau des Hessener Schlosses weiter. Der Hofbaumeister Paul Francke wurde vom Herzog persönlich beauftragt, das Schloss im Stil der Spätrenaissance (Manierismus) auszubauen. In diese Zeit fällt die Errichtung der Portale des Westflügels und des Pavillons an der Südostecke der Oberburg. Im Jahre 1625 wird Heinrich Julius in einem Gedicht auf einem Holzschnitt von Elias Holwein als Erbauer der „schönen Kirche“ (Hauptkirche Beatae Mariae Virginis in Wolfenbüttel) und des Schlosses zu Hessen genannt. Dies ist allerdings nur ein Lobpreis auf den bereits verstorbenen, einst mächtigen Fürsten. Herzog Heinrich Julius hat keine bedeutenden Baumaßnahmen in Hessen eingeleitet.

Nach dem Tod von Heinrich Julius 1613 nutzte seine Frau Elisabeth das Schloss bis 1626 als Wit-wensitz. Sie holte Johann Royer 1607 als Gärtner nach Hessen und veranlasste das Anlegen des bereits seinerzeit hochgerühmten Gartens. Sie verfügte zudem den Bau des Stifts als Armenhaus in der Nähe der Mühle. Herzogin Elisabeth plante, das Schloss und den Garten Hessen langfristig als fürstliche Residenz auszubauen und zu erhalten.

1654 ließ Herzog August der Jüngere (reg. 1635-66) den Eingangsbereich der Schlosskapelle im Ostflügel der Oberburg mit einem stattlichen Hofportal versehen. Möglicherweise verfolgte er die Absicht, das Schloss auch weiterhin als fürstlichen Wohnsitz zu belassen. Jedoch konnte dies nichts am fehlenden Interesse der Braunschweiger an ihrem Schloss in Hessen ändern. Der Verfall der Schlossanlage begann.

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wies das Schloss in Hessen erhebliche Baumängel auf. Die Zwerchgiebel sowie Teile der Fachwerkaufbauten waren so stark beschädigt, dass sie vom Einsturz bedroht waren. 1726 wurde der Landbaumeister Hermann Korb (1656-1735) mit notdürftigen Reparaturen und einem Rückbau des Schlosses beauftragt. Durch die geänderten Nutzungsanforderungen an das Schloss im 18. Jahrhundert als Amtssitz und insbesondere als landwirtschaftliches Gut, wurden zahlreiche Fensteröffnungen vermauert oder, wie am Treppenturm zwischen Süd- und Ostflügel, wo auch ein neues Portal eingefügt wurde, erneuert. Diese barocken Baumaßnahmen sind noch heute eindeutig zu erkennen.
Unter Korb wurde die bis dahin vom Pavillon über den Burggraben zum Wall führende Zugbrücke durch eine Steinbrücke ersetzt. Der Wohnbereich verlagerte sich von der Oberburg in den Westflügel der Unterburg. Die Oberburg wurde hauptsächlich nur noch für Lagerzwecke verwendet. Auf Grund der neuen Nutzung als landwirtschaftliche Domäne wurde der westlich vorgelagerte Hof mit z.T. stattlichen Stallungen und Speichern ausgebaut, welche in ihrer schlichten, funktionalen Baugestaltung ihre eigenen Qualitäten aufweisen.

Mit der Beendigung der Rück- und Umbaumaßnahmen unter Korb konnte das Schloss in Hessen für die kommenden Jahrhunderte als Domäne verpachtet werden. Die Zeit als fürstliche Wohn- bzw. Sommerresidenz war damit für immer beendet.

Am 7. März 1808 bezog die Familie von Schwartz als letzter Pächter die Domäne in Hessen. Unmittelbar nach Bezug des landwirtschaftlichen Gutes wurden die Burggräben verfüllt. Die Schlosskapelle im Ostflügel der Oberburg wurde in eine Brauerei umgebaut.
Ende des 19. Jahrhunderts wurde in die Steinscheune ein Keller mit einer preußischen Kappe eingezogen.
Die Familie von Schwartz verließ Hessen 1945 nach Ende des II. Weltkrieges.