Arnhold & Kotyrba Architekturführer

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Jeder Einwohner, jeder Besucher der Stadt benutzt sie – die Brücken über die Oker-Umflutgräben in Braunschweig. Eine Überquerung der Flussläufe geschieht, besonders mit dem Kraftwagen, meist unbewusst. Konstruktion, Gestalt und Geschichte der Brücken sind vielen Bewohnern und den meisten Gästen Braunschweigs weitgehend unbekannt. Am besten lassen sich die vielfältigen Brückenbauwerke bei einer Bootsfahrt auf den Okergräben erleben.

Die heutigen Okerbrücken stammen aus dem Zeitraum der letzten eineinhalb Jahrhunderte. Sie zeigen einen repräsentativen Querschnitt durch die Architekturgeschichte und den Ingenieurbau seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Doch reicht die Geschichte der Brücken oft bis weit in das Mittelalter, in das 12. und 13. Jahrhundert, zurück. Während die Oker ursprünglich durch die heutige Innenstadt verlief, schuf man für die Anlage der Stadtbefestigung künstliche Okergräben um die Stadt herum. Die ersten Gräben entstanden bereits mit der Aufsiedlung der Altstadt und der planmäßigen Anlage der Teilstadt Hagen im 12. Jahrhundert. Im frühen 13. Jahrhundert entstand ein Mauerring, der auch die Altewiek und schließlich das Weichbild Neustadt umfasste. Vor den Mauern verliefen die Okergräben. An den Tortürmen der Stadtmauer wurden hölzerne Zugbrücken errichtet. Mit dem Neustadtmühlengraben und einem Rest des Wendenmühlengrabens ist ein Teil des mittelalterlichen Grabensystems noch erhalten.

Nach der Erfindung und Verbreitung des Schießpulvers mussten die Befestigungsanlagen gegen den Einsatz von Kanonen verstärkt werden. Daher entstanden im 14. Jahrhundert vor den bisherigen Stadtgräben weitere Wälle, denen wiederum Gräben vorgelagert waren. Zur Überquerung der äußeren Gräben war der Bau weiterer Torbrücken erforderlich, die ebenfalls in Holz ausgeführt wurden. Die Befestigungen mussten ständig verbessert und ausgebaut werden, um mit der Entwicklung der Feuerwaffen Schritt zu halten. Auf den Wällen entstanden nun Vortore und an wichtigen Stellen auch Geschütztürme. Nach den ersten Rundbastionen der Zeit um 1500 kam es im darauffolgenden Jahrhundert zur Errichtung der ersten pfeilförmigen Bastionen. Verbreiterungen der äußeren Gräben machten abermals den Neubau der dortigen Torbrücken erforderlich. Über den inneren Gräben wurden schon im späten Mittelalter steinerne Bogenbrücken erbaut.
Nach der Eroberung Braunschweigs durch Herzog Rudolf August (1671) wurde die lange Zeit widerspenstige Stadt in den absolutistischen Staat eingegliedert. Auf Befehl der Landesherren entstand von 1692 bis um 1730/40 eine gewaltige barocke Bastionärbefestigung, die niemals ganz fertiggestellt wurde (Abb. oben). Damit mussten auch sämtliche Torbrücken neu errichtet werden, zumal man die Gräben deutlich verbreitert hatte. Im Zuge der Neubefestigung wurden das Magni- und Neustadttor geschlossen und an Stelle des Michaelistores das Wilhelmitor geschaffen. Die Torwege in die Stadt führte man aus verteidigungstechnischen Gründen immer über die inselartigen Bastionen (Ravelins) innerhalb des Grabens. Die Ravelins schirmten die Tore von der Feldseite ab. Aus diesem Grund mussten zur Überquerung des Grabensystems immer zwei Brücken gebaut werden, eine lange Torbrücke und eine kürzere Ravelinbrücke. In die hölzernen Grabenbrücken waren Zugbrücken integriert. Aus der Barockzeit sind die ersten zeitgenössischen Bauzeichnungen von Brücken erhalten geblieben. Die Brückenkonstruktionen ruhten über Pfahlgründungen im Grabenbett und waren bisweilen als Sprengwerke ausgebildet. Mit den Sprengwerken wurden die Lasten der einzelnen Brückenjoche über diagonal angeordnete Druckstreben in die Pfahlgründungen abgeleitet. Die Konzeption der Holzbrücken sah für den Fall einer Belagerung einen Abbau vor. Dies geschah schließlich 1761, während einer Belagerung Braunschweigs im Siebenjährigen Krieg (1756-63).

Die Bastionärbefestigung erwies sich bald als überholt und untauglich für eine effektive Verteidigung. Wallanlagen und Gräben verfielen in einen ungepflegten Zustand, zumal die übermäßig breiten Gräben verlandeten. Es kam die Zeit der „Entfestigung“ von Städten. Im Jahr 1801 berief Herzog Karl Wilhelm Ferdinand eine „Wall-Demolierungs-Kommission“ ein. Ab 1803 wurde der geniale Baumeister Peter Joseph Krahe mit den Planungen betraut. Die Umgestaltung zog sich, unterbrochen durch die Wirren der Napoleonischen Epoche, bis in die 1820er Jahre hin. So entstand einer der schönsten Promenadenringe Europas (Abb. rechts). Die wichtigsten Komponenten der Planungen waren die gewundenen Flussläufe der Umflutgräben und die Anlage von Wallstraßen (Avenuen). Die gewundenen Verläufe der Umflutgräben gehen auf die Form der barocken Bastionärbefestigung zurück. Die Gräben wurden verschmälert und durch neue Wehre reguliert. Abermals mussten sämtliche Brücken über die äußeren Gräben neu errichtet werden. Die Brückenbauten Krahes standen immer in gestalterischem Zusammenhang mit der gesamten Torsituation, zu der auch die Torhäuser gehörten. Während 1806 die Augusttorbrücke noch als steinerne Bogenbrücke gebaut wurde, konnten die übrigen Brücken nach den Befreiungskriegen großenteils nur in Holz ausgeführt werden. Sie wurden so gestaltet, dass sie als massive Bogenbrücken wirkten. Die hölzernen Bogenkonstruktionen mussten immer wieder instand gesetzt werden.

Nach Eröffnung des Bahnhofes im Süden der Stadt wurden neben den Brücken an den traditionellen Stadttoren die ersten neuen Okerübergänge geschaffen. Mit der Industrialisierung und dem anfangs langsamen, dann planmäßigen Wachstum der Stadt über den Wallring hinweg, begann eine neue Epoche des Brückenbaus. Nun wurden weitere Zugänge in die Innenstadt geschaffen, um die neuen Wohnquartiere und Fabrikanlagen anzubinden. Als Fahrbrücken errichtete man ab 1880 die Pockels-, Theater-, Leonhard- und Ferdinandbrücke, während für den Fußgängerverkehr die Ottmer-, Sidonien- und die Rosentalbrücke entstanden. Dem zunehmenden Verkehr und der Einführung der Straßenbahn waren die vorhandenen Brücken konstruktiv und maßlich nicht mehr gewachsen. Das Problem wurde auf unterschiedliche Weise gelöst. Meist ersetzte man die bisherigen Holzkonstruktionen durch Steinbögen oder Stahltragwerke, auch neuartige Betonverbundkonstruktionen kamen zum Einsatz. Die Brückenbauten der Gründerzeit bieten einen interessanten Überblick über die Bandbreite der damals möglichen Bauverfahren.

Im Zuge des Wiederaufbaus nach den großflächigen Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges wurde die Innenstadt für den Individualverkehr erschlossen. Für den Ausbau zur autogerechten Stadt erfolgten auch starke Eingriffe in das Gesamtkunstwerk des Wallrings. Etliche der um 1900 errichteten oder umgebauten Brücken genügten den Anforderungen des modernen Verkehrs nicht und wurden nach und nach durch Neubauten ersetzt. Es entstanden zumeist schlichte, funktionalistische Betonbrücken ohne gestalterischen Charakter, bis 2002 die Petritorbrücke durch einen ambitionierten Neubau ersetzt wurde. Mit dem Abbruch der Fallerslebertorbrücke ist 2010 ein weiterer, bedeutender Brückenbau verschwunden. Auf der anderen Seite sind mehrere der historischen Brücken restauriert worden. Sie sind Zeugnisse eines eher unbekannten, aber spannenden Teils der Baugeschichte dieser Stadt.