Städtebau als kulturelle Praxis

Reformkonzepte in Deutschland 1910–1930

von

Die städtebauliche Theoriebildung der 1920er und frühen 1930er Jahren war – nicht allein in Deutschland – geprägt von dem Gedanken, dass die zeitgenössische Großstadt neuartige Aufgaben und Herausforderungen zu bestehen habe, die nur mithilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse zu lösen seien. Eine neuartige Begrifflichkeit von Zwecken und Funktionen ersetzte die bis zum Ersten Weltkrieg übliche Rede von Bedürfnissen und führte zum Leitbild einer „funktionalen Stadt“.
Ulrike Sturms Studie fokussiert auf eine lose kooperierende Gruppe von Städtebauern, Stadtplanern sowie Kritikern und Wissenschaftlern der Weimar Republik, die für innovative Konzepte und Verfahren im Städtebau plädierten, sich dabei aber ganz explizit auf kulturelle Traditionen bezogen, die ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Bislang wurde diese Gruppe von der Forschung nicht als solche wahrgenommen. Die Vertreter dieser Haltung werden in der Studie als Protagonisten einer Stadtbau-Kultur bezeichnet, da sie Städtebau aus dem Bezug auf eine kulturelle Entwicklung der Gesellschaft heraus verstanden. Kultur umfasst dabei sowohl die (bau-)künstlerische Tätigkeit als höhere geistige Arbeit als auch das alltägliche Leben, das als Alltagskultur einer Gesellschaft verstanden wird.
Die grundlegende Vorstellung einer Reformbedürftigkeit der städtebaulichen Praxis im beginnenden 20. Jahrhundert lässt den Städtebauer und Architekten zum Reformer werden, der den Auftrag hat, das kulturelle Niveau des Alltagslebens und der Baukunst zu heben. Sozialreform und ästhetische Reform sind gleichermaßen Teil dieses Auftrags. Dass es sich nicht nur um vereinzelte Personen handelte, sondern zahlreiche Städtebauer der Weimarer Republik theoretisch wie praktisch diese Haltung teilten, wirft ein neues Licht auf die Städtebaugeschichte dieser Zeit, die bislang stark von der Erforschung avantgardistischer oder – im Gegensatz dazu – im politischen Sinne konservativer bis hin zu nationalsozialistischer Haltungen geprägt ist.
Die Studie ist mit ihrem überzeugenden Aufbau, der wissenschaftlichen Präzision und der klaren Argumentation geeignet, die Diskussion um die Städtebautheorie der 20er Jahre des 20. Jahrhunderts neu zu führen. //

Ulrike Sturm, seit 2010 Stellvertretende Leiterin und Fokusleitung von Living Context am Kompetenzzentrum Typologie & Planung in Architektur (CCTP) der Hochschule Luzern – Technik & Architektur, lehrt, forscht und publiziert in den Bereichen Theorie der Architektur, Städtebau und Raumplanung. Sie hat sich, aktuell wie historisch, intensiv mit dem Thema der Transformation von Städten und Quartieren auseinandergesetzt.