Wer Hakan Tezkans Debüt Den Kern schluckt man nicht aus dem Elif Verlag aufschlägt, betritt ein Labor. Unter dem Mikroskop liegt das Leben selbst. Wie ein Pathologe seziert Tezkan eine Familienstruktur. Sein Skalpell ist die Sprache. Und wie ein Physiker schaut er auf die Atome, die kleinsten unteilbaren Einheiten. Geringfügigste Details sind der Erwähnung wert. Die Aufmerksamkeit liegt nicht bei der zu erzählenden Geschichte, sondern bei den Menschen und ihren Absonderlichkeiten oder Besonderheiten.
Es gibt Bücher, in denen geschieht nichts außer das Leben. Dabei fängt Tezkan Gedanken und Gefühle ein, die in anderen Romanen kaum oder gar keine Beachtung fänden. Die Wahrnehmung selbst und sei sie auch noch so beiläufig, banal oder grotesk wird zum Mittelpunkt. Das muss man mögen, darauf muss man sich einlassen können. Ansonsten wird man mangels eines klassischen Spannungsbogens, einer klassischen Erzählweise sicherlich enttäuscht werden. Wer allerdings Neues entdecken möchte, wer sich an Sprache ergötzen kann, wer sich gerne irritieren lässt, um aus den gewohnten Bahnen auszubrechen, der wird mit Den Kern schluckt man nicht viel Freude haben.
Protagonist ist M., der namenlose Sohn der Familie. Natürlich ist man geneigt sofort Assoziationen zu Kafkas K. zu ziehen. Doch die Geschichte ist nicht kafkaesk. Tezkan versucht nicht dem großen Namen nachzueifern. Vielmehr ist es eine Hommage und zugleich ein Destillat von Sprache. Ein Merkmal des gesamten Debüts. Die Kapitelüberschriften bestehen lediglich aus einem Wort. Die Sätze sind meist kurz, präzise, exakt. Geradezu rein. Es herrscht ein antiseptischer klinischer Stil, eine kühle Distanz, die die Wärme vermissen lässt. Die Wärme einer intakten Familie?
Den groben Rahmen der episodenhaften Erzählung bildet der Tod des „Opas“. Die Szenerie ähnelt häufig einem Kammerspiel. Die kleine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus im dörflichen Nirgendwo. Die klaustrophobische Stimmung, die Tristes, die Einsamkeit und das Unbehagen schlagen sich in den Sätzen nieder wie der Morgentau auf einer abgelegenen Wiese. Vater und Mutter scheinen mit M. überfordert zu sein. Und M. scheint mit dem Leben überfordert zu sein. M. ist augenscheinlich verhaltensauffällig. Ist er autistisch? Oder neurotisch? Vielleicht ist er auch einfach nur ein introvertierter und rebellierender Heranwachsender. Oder lässt uns Tezkan gerade dabei zuschauen, wie jemand am Leben zu scheitern beginnt?
M. kapselt sich jedenfalls von der Welt um ihn herum ab. Oder kapselt sich die Welt von ihm ab? Das Ausschließen der Welt symbolisiert Tezkan indem sich M. immer wieder die Kopfhörer über die Ohren setzt. Er mauert sich regelrecht ein, ist die lebendige leibnizsche Monade, gefangen im vermeintlich unteilbaren und unmitteilbaren Erleben und Empfinden. Das Verhalten M.s mutet häufig seltsam an, es irritiert, verwirrt. Was stimmt mit M. nicht? Wenn man so möchte, ist dies der versteckte Spannungsbogen. Wer ist M. und warum ist er so wie er ist?
Hakan Tezkan spielt sowohl mit der Sprache als auch mit den Erwartungen und Gewohnheiten seiner Leser*innen. Er bricht mit Konventionen und das kann in Gänze begeistern oder enttäuschen. Wer Literatur auch als Kunstform mag und nicht nur als reine Unterhaltung, bekommt mit Den Kern schluckt man nicht ein Debüt, dass in Erinnerung bleibt.
Die erste Lesung fand am 16.03.2018 zur Leipziger Buchmesse statt.