Braunschweig präsentiert sich heute als moderne Großstadt mit ca. 250.000 Einwohnern. Der alte Stadtkern wird seit Jahrhunderten von den Turmwerken der mittelalterlichen Kirchen geprägt. Nach den umfassenden Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges sind diese Kirchenbauten für die Identität der Stadt entscheidend.
Braunschweig wurde erstmals 1031 in einer Weiheurkunde für die St. Magni-Kirche als „Brunesguik“ erwähnt. Seinerzeit existierte an Stelle der späteren Burg Heinrichs des Löwen bereits eine Burganlage mit Stiftskirche. Auch der Okerübergang war schon vorhanden und Bestandteil eines wichtigen Fernhandelsweges. Damit war eine typische Voraussetzung für die Entstehung einer mittelalterlichen Stadt gegeben: eine Flussüberquerung, die von einer Burg geschützt und auch kontrolliert wurde. Zu beiden Seiten des Okerübergangs entstanden Marktsiedlungen. Im Osten des Übergangs geschah dies westlich der Magnikirche, im Westen bildete der Kohlmarkt mit St. Ulrici (1544 abgebrochen) einen ersten Siedlungsschwerpunkt. Während des 12. Jahrhunderts wuchs die Kohlmarktsiedlung auf den Umfang der späteren Altstadt.
Unter Herzog Heinrich dem Löwen (reg. 1142-95) entwickelte sich Braunschweig zu einer der größten Städte Norddeutschlands. Heinrich ließ um 1166 das Löwenstandbild und im letzten Viertel des 12. Jahrhundert die Burg Dankwarderode sowie die Stiftskirche St. Blasius errichten. Als Bestandteil der Burg entstand die im 17./18. Jahrhundert verschwundene Burgkapelle St. Georg und St. Gertrud, eine zweigeschossige Doppelkapelle.
Neben dem planmäßigen Ausbau der Altstadt veranlasste Heinrich die Gründung einer weiteren Teilstadt: ab 1160 entstand östlich der Oker das auf regelmäßigem Grundriss angelegte Weichbild Hagen. Dort wurde ab ca. 1200 die Katharinenkirche erbaut, nachdem man einige Jahre zuvor in der Altstadt mit dem Bau von St. Martini begonnen hatte. In den Jahrzehnten um/nach 1200 wurde schließlich die dreieckige Fläche im Norden der Altstadt aufgesiedelt (Weichbild Neustadt). Als Pfarrkirche entstand hier schließlich St. Andreas.
Der Begriff „Weichbild“ ist in Braunschweig als Bezeichnung für eine Teilstadt mit eigener Ratsverfassung und Pfarrkirche sowie eigenem Markt zu verstehen. Im Spätmittelalter regierte ein von den Weichbildräten geschaffener „gemeiner Rat“ über die gesamtstädtischen Belange. Die Gliederung der Stadt in Weichbilde ist ein Grund für die Existenz der zahlreichen großen Kirchenbauten in Braunschweig. Der 1209 zum Kaiser gekrönte Otto IV. (reg. 1198-18), ein Sohn Heinrichs des Löwen, veranlasste die erste Gesamtbefestigung. In diese wurde auch das alte Stadtquartier um die Magnikirche (Weichbild Altewiek) und das bereits 1115 gegründete Aegidienkloster einbezogen. Westlich der Burganlage bildete sich im Verlauf des 13. und frühen 14. Jahrhunderts das Weichbild Sack.
Die Anfänge und der planmäßige Auf- und Ausbau Braunschweigs und die erste Blütezeit der Stadt als Herzogs- und kurzzeitige kaiserliche Residenz fällt in die Epoche der Romanik. Die ersten Kirchenbauten waren schlichte Gebäude mit flachen Decken. Dies gilt für den Vorgängerbau der Stiftskirche in der Burg wie für den 1031 geweihten Ursprungsbau von St. Magni. Weitere Bauten dieser Art waren St. Ulrici auf dem Kohlmarkt (11. Jahrhundert) und die erste Klosterkirche des 1115 gegründeten Aegidienklosters.
Die 1173 begonnene Errichtung der Stiftskirche (Dom) brachte einen außerordentlichen qualitativen Schub. Sie gilt als erster vollendeter Großgewölbebau Norddeutschlands. Das Vorbild dieser Architektur wirkte nicht nur auf die folgenden Kirchenbauten in der Stadt selbst, sondern in die gesamte Harzregion und bis nach Ratzeburg und Lübeck. So wurden um und nach 1200 die Pfarrkirchen der drei wichtigsten Weichbilde (Altstadt, Hagen und Neustadt) als spätromanische Gewölbebasiliken mit wuchtigen Westbauten nach dem Vorbild von St. Blasius begonnen. Mit St. Michaelis und St. Petri entstanden in der Altstadt weitere Pfarrkirchen.
Braunschweig konnte seine Stellung als führender Handelsplatz und Vorort der Hanse vom Spätmittelalter bis in das 17. Jahrhundert ausbauen und behaupten. Die Stadt hatte damals über 15.000 Einwohner. Dies fand seine Auswirkung in einer großartigen Bautätigkeit sowohl auf dem Gebiet der Kirchenbaukunst als auch mit einer Fülle wertvoller Profanbauten wie dem Altstadtrathaus.
Seit der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurden die spätromanischen Pfarrkirchen nach und nach zu gotischen Hallenkirchen umgestaltet. In St. Martini, St. Katharinen und St. Andreas wurden große Teile der romanischen Bausubstanz in die Umbauten einbezogen. Diese drei Kirchen wurden schrittweise nach dem gleichen Muster erweitert und erhielten damit ihr ähnliches Erscheinungsbild. Charakteristisch sind die Giebelreihen über den einheitlich wirkenden Seitenfassaden. Die Stiftskirche dagegen blieb als Basilika bestehen, erhielt ihre gotische Glockenstube mit den unvollendeten Türmen und zusätzliche Seitenschiffe.
Andere Kirchen wurden indes weitgehend neu errichtet. Dazu gehört die im Zweiten Weltkrieg stark zerstörte Hallenkirche von St. Magni (2. Hälfte 13. Jahrhundert) mit ihrem an den älteren Vorbildern orientierten Turmwerk. Nach einem großen Stadtbrand (1278) musste die Klosterkirche von St. Aegidien neu aufgebaut werden. Sie wurde als gotische Basilika mit Umgangschor und Querhaus begonnen und nach einem Planwechsel bis 1478 mit großem Hallenlanghaus vollendet. Vom hochmittelalterlichen Aegidienkloster sind aus dem 12. Jahrhundert noch schöne Räume im Ostflügel der ehemaligen Klausur erhalten.
Für die im 13. Jahrhundert gegründeten Bettelorden der Franziskaner und Dominikaner wurden, hauptsächlich im Verlauf des 14. Jahrhunderts, in der Altstadt und im Hagen kompakte Klosteranlagen geschaffen. Ihre großen Predigtkirchen blieben den Ordensregeln entsprechend turmlos.
Beim Bau der Pfarrkirchen traten die Gemeinden der Weichbilde mit den weithin sichtbaren Turmwerken und prächtigen Glockenstuben in einen regelrechten Wettstreit. Bis auf St. Martini blieben diese Bauwerke sämtlich unvollendet. Bei St. Andreas, dessen Südturm 1544 mit seiner nadelspitzen Haube eine Höhe von 122 m erreichte, wurden die Bauarbeiten am Nordturm auf Grund der Reformation beendet. Damit kam es zum Ausklang einer großartigen Bautätigkeit.
- Veröffentlicht am Montag 6. Oktober 2014 von Kotyrba, Sándor
- ISBN: 9783942712378
- 100 Seiten
- Genre: Architektur, Kunst, Literatur, Sachbücher