Trümmerbahn, Quarkkäulchen und Tunnelflucht

von

Dr. Hans-Georg Müller, Trümmerbahn, Quarkkäulchen und Tunnelflucht.

Warum schreibt heute jemand wie Dr. Hans-Georg Müller ein Lebensbericht oder Buch über Zeiten und Fluchten, die mittlerweile über ein halbes Jahrhundert vergangen sind?
Die persönlichen Erinnerungen Hans-Georg Müllers über ein sehr bewegtes und tatkräftiges Leben seit nunmehr über 70 Jahren lassen trotz ernster Themen wie die schwere Nachkriegszeit und die besondere Wohn- und Lebenssituation mit der Berliner Mauer und der deutschen Teilung als dramatisches Kapitel die komischen Seiten nicht aus.
Mit viel Mut, Willenskraft, aber auch erstaunlicher Kreativität und List stemmte sich der Autor im Kreise seiner Familie und Freunden gegen die rigorosen, leidvollen Absperr- und Sicherungsmaßnahmen des DDR-Grenzregimes. Seine Beschreibungen der persönlichen Ereignisse um den legendären und selbst gegrabenen Aagaard-Fluchttunnel von Glienicke/ Nordbahn nach Berlin-Reinickendorf im Winter 1962 bis zur Flucht im März 1963 verdeutlichen den ungebrochenen Freiheitswillen. Der Mauerbau am 13. August 1961 als ultima ratio wurde für sehr viele DDR-Bürger zur dramatischen Schicksalsfrage: Sollte man sich den gegebenen politischen Bedingungen anpassen und im selbst durchschauten DDR-Unrechtsstaat eingesperrt bleiben oder trotz aller Todesgefahren mehrere Fluchtversuche in den Westen wagen, um ein Leben in Wahrheit und Freiheit führen zu können?
Mit ungewöhnlicher Genauigkeit schildert Hans-Georg Müller, heute Arzt in Feuchtwangen, aus der Sicht eines jungen, wissensdurstigen Mannes seine Kindheit in Dresden, seine Jugendzeit in der DDR und seine Zeit als Student der Medizin in Ost-Berlin. Eine entscheidende Zäsur setzte aber die spektakuläre und gefährliche Tunnelflucht nach Westberlin nach zuvor gescheiterten Fluchtversuchen.
Sein leidenschaftlich geschriebener Lebensbericht vermittelt einen sehr persönlichen Einblick in den Alltag eines jungen, tatenlustigen und lebensfrohen Mannes im Nachkriegsdeutschland bis in die Mitte der 1960er Jahre, schildert eindrucksvoll den Zusammenhalt, aber auch das Misstrauen zwischen den Leuten, das Hin- und Hergerissen sein zwischen Hoffnung und Verzweiflung, um selbstbestimmt als freier Mensch zu leben. Man muss sich nur allein den einzigartigen Moment des unbeschreiblichen Glücks vorstellen, als die Grabenden nach Monaten am Ende und Ziel des Fluchttunnels ankamen: eine enge, klaustrophobische Röhre, die nur improvisiert war und mit einfachsten Mitteln gegraben wurde. Sie drohte jederzeit einzustürzen und die Tunnelgräber lebendig zu begraben oder oberirdisch konnten die Flüchtlinge von den Grenzern verhaftet oder gar erschossen werden. Es gab aber eine ungeheure Energie und den ungebrochenen Willen, um sich in die Freiheit zu graben. Sie waren bereit, sogar ihr Leben dafür aufs Spiel zu setzen, um mit ihren Familien, Verwandten und Freunden dorthin zu gelangen. Seine geschilderten Erinnerungen vermitteln eben jene Empathie, die uns Lesern verständlich macht, warum die Familien Müller und Aagaard sowie Freunde sich wochenlang unter ständiger Lebensgefahr, körperlicher Anstrengung und seelischer Anspannung durch den märkischen Untergrund gegraben haben.
Hans-Georg Müller ist sowohl Akteur als auch genauer Beobachter der damaligen Ereignisse: er schildert es so plastisch, als wäre man selbst dabei gewesen – informativ sowie zugleich spannend als auch unterhaltsam.
Wenn Sie diese Autobiographie in ihren Händen halten, freuen Sie sich, mit Hans-Georg Müller sozusagen gemeinsam auf eine besondere und authentische Lebensreise zurückzugehen und für sich selbst viele neue Anregungen und Erkenntnisse für ein couragiertes Leben zu gewinnen. Man kann es auch mit den Worten von Elie Wiesel, US-Schriftsteller, Holocaust-Überlebender und Friedensnobelpreisträger, abschließend sagen: „Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden.“ Die Freiheit stellt ein ungeheuer kostbares Gut dar.
Es ist mir als Archäologe und Freund der Familie Müller zugleich eine Ehre und Freude, dieses Geleitwort für Hans-Georg Müller zu schreiben, da die Ausgrabung des Aagaard-Flucht-tunnels fast 50 Jahre später meine bislang spektakulärste und ergreifendste Entdeckung im Berufsleben wurde. Die Verknüpfung der wissenschaftlichen Auswertung mit den Zeitzeugenberichten, die vielen Begegnungen mit ihnen als Protagonisten, macht das Besondere daran aus. Ihre Motivation, Entschlossenheit und Lebensfreude hinterlässt einen tiefprägen den Eindruck.
Mit diesem Buch kann sich Hans-Georg Müller am Abend seiner langen ärztlichen Verpflichtung in der Praxis gern darauf konzentrieren, Zeitzeuge, Historiker und Schriftsteller in Einem zu sein. Glück, Liebe und Freiheit kann man nicht festhalten, aber man kann es wie er immer wieder suchen und auch finden.

Glienicke/Nordbahn, 15.05.2014 Torsten Dressler/ Archäologe u. Zeithistoriker