Lyrik, eingewebt in DigitalArt.
20 Fotos zum Thema Altern und Sterben
Hineingeboren in eine Eiche
Nur zu gerne bilde ich mir ein, dass auch meine Wiege in ihren Zweigen hing, aber dazu war sie viel zu groß und alt und mein Erinnerungsvermögen an sie reicht nur bis dahin zurück, dass ich auf einer hohen, verschlissenen Sofalehne saß und durch das geöffnete Fenster im zweiten Stock unseres Hauses ihre Blätter greifen konnte. Hier, in dieser alten Eiche lebte ich meine Kindheit und Jugend.
Hier beweinte ich den Verlust vom Weihnachtsmann und Osterhasen und hier starb Winnetou unzählige Male in meinem heißen Herzen. Hier vergaß ich die Welt. Hier, in diesen Zweigen erreichte mich keine ungeduldige Aufforderung zum Essen oder zum Hausaufgaben erledigen. Ich schwebte hoch über allem.
Diese Weltsicht habe ich mir erhalten, sie ist die Beste, die ich je hatte und in Zukunft haben werde. Von schräg oben auf ein Glück oder ein Problem zu schauen, rückt alles ins rechte Licht.
Säße ich heute auf der verschlissenen Sofalehne, bäte ich meinen alten Körper, immer und immer wieder Fragen zu stellen:
zum Beispiel:
Was wäre, wenn der Mond aus Käse wäre ?
Kann ich Steine hören ?
Gibt es ein Gen fürs Singen ?
Können Gräser fühlen ?
Aber es gibt meinen Baum nicht mehr. Er musste einer Straßenverbreiterung weichen.
Deshalb schreibe ich Gedichte über das Leben und Sterben
- Veröffentlicht am Mittwoch 29. Juli 2015 von epubli
- ISBN: 9783737559027
- 40 Seiten
- Genre: Kunst, Literatur, Sachbücher