Erinnerungen

Die Unruhigen | Linn Ullmann besprochen von Janina am 21. August 2018.

Bewertung: 5 Sterne

„Um über wirkliche Personen zu schreiben wie Eltern, Kinder, Geliebte, Freunde, Feinde, Onkel, Brüder oder zufällige Passanten, ist es notwendig, sie zu fiktionalisieren. Ich glaube, dies ist der einzige Weg, ihnen Leben einzuhauchen.“
(S. 287)

Dies ist das Leitmotiv dieses Buches. Linn Ullmann schreibt über ihr Leben, ihre Erinnerungen, ihre Eltern, die Schauspielerin Liv UIlmann und den Regisseur Ingmar Bergman. Das alles soll fiktiv sein und doch kommt man den Personen näher als jede Biographie das vermocht hätte.
Vater und Tochter möchten eine Reihe Tonbandaufnahmen machen, um Gespräche über das Leben und das Altern festzuhalten und daraus ein Buch zu machen. Doch als es soweit ist, ist es eigentlich zu spät, dem Vater sind Worte und Erinnerungen abhanden gekommen. Später wird er seine Tochter nicht mehr erkennen. Das erste Mal aufgefallen ist ihr die schleichende Veränderung des Vaters, als er zu einer Verabredung zu spät kommt und sich nicht entschuldigt. Er, der auf Pünktlichkeit zeitlebens bestand und für den eine verspätete Minute ein Vergehen war, kommt zwanzig Minuten nach der vereinbarten Zeit und merkt es nicht einmal. Es sind diese Kleinigkeiten, die nur Angehörige wissen können, die plötzlich eine große Bedeutung bekommen.
Und mit solchen Momenten ist das Buch gefüllt. Erinnerungen an die Besuche beim Vater, die Eltern hatten sich früh getrennt, an die Ferien in Hammars, dem Landsitz des Vaters. Erinnerungen an die Jahre mit der schmerzhaft bewunderten Mutter, der Schauspielerin, die ihre Tochter bei der Oma und wechselnden Kindermädchen parkt und sich doch selbst so sehr nach heiler Welt und Geborgenheit sehnt. Erinnerungen, die so wunderbar klug und feinfühlig niedergeschrieben wurden, dass man die Autorin stellenweise einfach umarmen möchte. Selten habe ich ein Buch gelesen, dass mich so berührt hat, und das ganz ohne Pathos oder Rührseligkeit.  Linn Ullmann erinnert sich liebend an ihre Eltern, sie stellt nicht bloß, auch nicht da, wo sie es könnte und vielleicht sogar Grund dazu hätte. Und beschreibt dabei Momente, in denen man Schmerz und Trauer hautnah spüren kann, Momente, in denen mir die Tränen einfach herunterliefen und ich trotzdem lächeln musste, weil Bücher solche Emotionen bei mir nur selten hervorrufen.
Und die ganze Zeit habe ich mich gefragt, wieso ich diese ja durchaus nicht unbekannte Autorin erst jetzt entdecke, die so schreiben kann, dass ich hilflos meinen eigenen Gefühlen ausgesetzt bin, dass ich ein vierhundert Seiten starkes Buch über die Vergangenheit anderer Menschen in anderthalb Tagen lese und dabei alles stehen und liegen lasse, was mir vorher wichtig erschien.
„Die Unruhigen“ ist ein ungeschminktes, sehr ehrliches Buch, eines, das auf sehr leise Art unter die Haut geht und eines, das mich unglaublich beeindruckt hat. Aber das hat wohl inzwischen jeder Leser dieser Besprechung schon gemerkt.

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