Glaube und Macht

Ich muss gestehen, auf der Landkarte meiner Bildung ist China weitestgehend Terra incognita. Ich weiß sträflich wenig über Geschichte und Kultur dieses an Geschichte und Kultur ja so reichen Landes. Umso dankbarer bin ich für die Einblicke, die Stephan Thomes großartiger Roman dem Leser gewährt. „Gott der Barbaren“ spielt Mitte des 19.Jahrhunderts. Die Qing-Dynastie wankt;  Europäer, vor allem Engländer haben sich in den Hafenstädten angesiedelt; der Opiumhandel blüht; Missionare strömen aus auf Seelenfang. Kulturen prallen aufeinander.
Philipp Johann Neukamp, ein junger Deutscher, empfänglich für Visionen von einem gerechteren Leben, die ihn auf die Barrikaden der März-Revolution in Deutschland geführt haben, gerät auf der Flucht an einen Scharlatan, der ihn mehr schlecht als recht ausgebildet auf einen Missionarsposten nach China schickt. Angekommen, muss er relativ schnell erkennen, dass er weitestgehend auf sich selbst gestellt ist. Zunächst kommt er bei einer anderen Missionsgesellschaft unter und dort in Kontakt mit einem jungen Chinesen, der von einem besseren China und dem Sturz des Kaisers träumt.
Dieser Hong Jin ist Cousin eines Mannes, der meint, der zweite Sohn Gottes und ein Bruder Jesu zu sein. In Visionen sieht dieser sich als Gründer eines neuen Reiches. Bei den ärmlich lebenden Hakka-Nomaden findet er schnell Anhänger, die Bewegung wächst und weitet sich zu einem Aufstand aus. In relativ kurzer Zeit erobern die Rebellen große Gebiete. Hong Jin wird einer der strategischen Köpfe der Rebellion.
Um den Aufstand niederzuschlagen, beruft der Kaiser Zeng Guofan, einen seiner besten Feldherren, der mit der sogenannten Hunan- Armee gegen die Rebellen vorgeht. Gleichzeitig wird der mächtige Oberbefehlshaber aber auch zu einer theoretischen Gefahr für den Thron, der durch die Opiumkriege mit den Briten arg ins Wanken geraten ist. Denn die Briten wollen, gemäß ihrer üblichen Kolonialpolitik, eine Öffnung des Landes für den Handel erzwingen und setzen dafür auch ihre überlegene Militärgewalt ein. James Bruce, Earl of Elgin and Kincardine, wird dafür als Sonderbotschafter einberufen.
Philipp Johann Neukamp, Hong Jin, Zeng Guofan, Lord Elgin. Um diese vier Menschen und ihre unterschiedlichen Sichtweisen dreht sich der Roman. Neukamp und Hong Jin sind die junge Generation, die Verbesserungen einführen möchte, empfänglich für Ideologien, die genau das versprechen, und die ihren Weg verlieren in einem Strudel scheinbar notwendiger Grausamkeiten, die aber, so ihr Glaube, zu einem guten Ziel führen. Selten wurde der Weg in blinden Fanatismus besser beschrieben. Das Gute, das mit dem Schwert erkämpft werden muss, geleitet von einem „Propheten“ mit einem direkten Draht zu Gott – Thome zeigt, wie aus eigentlich friedlichen Menschen „Gotteskämpfer“ werden, bar jeder Gnade und Menschlichkeit. Und wie ein Aufstand außer Kontrolle gerät durch innere Machtkämpfe und Realitätsverlust.
Im Gegensatz dazu stehen zwei altgediente Befehlshaber: Elgin, der von der englischen Krone von Brandherd zu Brandherd um die Welt geschickt wird und doch eigentlich lieber bei seiner Familie weilen möchte und Zeng Guofan, dessen ganzes Leben aus Kriegsführung besteht und der doch eigentlich lieber Gelehrter geblieben wäre. Im Grunde sind sich die beiden müden, aber disziplinierten Kämpen sehr ähnlich, auch wenn sie kulturell Welten trennen. Beide müssen in ihrer herausragenden Stellung einsame Entscheidungen treffen und vor sich selbst vertreten, beide sehnen sich nach Frieden und Ruhe.
Thome gelingt es hervorragend, die doch recht verworrenen politischen Fäden zu entwirren und die verschiedenen Positionen und Beweggründe darzulegen. Die Handlungen der einzelnen Beteiligten werden so nachvollziehbar, die Abläufe verständlich. Und gleichwohl bleibt das Ganze trotz der immensen Informationen über Geschichte, Kultur, Lebensweisen im damaligen China ein überaus spannender Abenteuerroman. Die Einbettung der Handlung in die historisch verbürgten Fakten gelingt mühelos, der Lesefluss ebenso.
Selten hat mich ein historischer Roman so begeistert. Die ruhige Erzählweise, die vielen Einblicke in das Denken der Protagonisten und die im Gegensatz dazu sich überschlagenden Ereignisse und handlungsbedürftigen Brennpunkte ergeben eine perfekte Komposition. Die Nominierung für die Shortlist des Deutschen Buchpreises ist daher mehr als verdient. Und wäre meine Meinung ausschlaggebend, würde Thome diesen Preis für seinen herausragenden Roman auch bekommen.

Gott der Barbaren
Stephan Thome
erschienen am 08.September 2018 im Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-42825-2

 

Dieser Beitrag erschien zuerst auf fraulehmannliest.com

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