Mit Amélie Nothomb verbinde ich intelligente, hinter- und abgründige, schwarzhumorige Bücher, die gerne mit der Lesererwartung spielen. Ich mag das, sehr sogar. Daher habe ich mich schon auf den Tag gefreut, an dem ich endlich „Happy End“ in den Händen halten würde, Nothombs Adaption von Charles Perraults Märchen „Riquet mit der Locke“. Und schon der erste Satz nahm mich gefangen:
Als Énide mit achtundvierzig Jahren ihr erstes Kind erwartete, fieberte sie der Entbindung entgegen wie andere einer Partie Russisch Roulette.
Und recht hatte sie, in der Sache etwas mißtrauisch zu sein, denn sie bringt ein so abgrundtief hässliches Kind zur Welt, dass sie und ihr Mann den Jungen zunächst mehr oder weniger verstecken, um ihn vor Gehässigkeiten und Verletzungen zu schützen. Was Déodat, so nennen sie den Knaben, aber eigentlich auszeichnet, ist eine außergewöhnliche Klugheit und Auffassungsgabe, die ihn dann auch die Mechanismen des Spotts, der über ihn hereinbricht, verstehen läßt. Und so wird aus Déodat ein äußerst erfolgreicher Wissenschaftler, durch seine Redegewandheit und seinen Humor beliebt.
Trémière dagegen ist schon als Baby wunderschön, so außergewöhnlich schön, dass ihre Umgebung das Bedürfnis verspürt, sie zu quälen, um einen Ausgleich zu schaffen. Zudem gilt sie als unbeschreiblich dumm, weil sie selten spricht und lieber beobachtet.
Wie diese beiden, der hässliche Déodat und die schöne Trémière oder auch der wortgewandte Déodat und die schweigsame Trémière, sich entwickeln, aufeinander zu leben und sich schlußendlich dann auch begegnen, das ist das Thema dieses Romans.
Stimmung und Schreibstil liessen in meinem Hinterkopf immer wieder ein Glocke klingen, der Tonfall kam mir bekannt vor. Und irgendwann kam ich auf des Rätsels Lösung: an Süskinds „Das Parfum“ erinnerte mich der Text, nicht so sehr inhaltlich als mehr in der Wortwahl, in der Satzmelodie. Eine Lektüre dieses Buches lohnt tatsächlich schon allein wegen dieses grandiosen Stils.
Aber. Ja, es kommt leider ein Aber. Der Text ist eine Neuinterpretation eines Märchens von Perrault, erschienen 1697. Dort wird der hässliche Riquet mit der Gabe geboren, jemandem von seiner Klugheit einen Teil zu schenken, während die schöne, aber dumme Prinzessin einen Teil ihrer Schönheit abgeben kann, Happy End inbegriffen.
Wenn ein Schriftsteller sich die Mühe macht, einen solchen Text in die heutige Zeit zu versetzen, dann steht dahinter zumeist ein Anliegen, etwas, das dem Autor am Herzen liegt. Denn warum sich sonst die Mühe machen, wenn man nicht versuchen würde, dem heutigen Leser damit einen Fingerzeig zu geben? Aber genau den verstehe ich scheinbar nicht. Achte weniger auf das Aussehen, auf die inneren Werte kommt es an? Oder teile Deine Talente mit Deinen Mitmenschen und Dir wird mehr gegeben als genommen? Oder wer bestimmt überhaupt, was Werte sind und wie sie auszusehen haben? Eine im Grunde so simple Botschaft kann ich mir bei der tiefgründigen Nothomb eigentlich nicht vorstellen. Eine andere erkenne ich jedoch leider nicht. Und so blieb mir am Schluss des Romans, trotz aller sprachlichen Schönheit, ein leichter Anflug von Beliebigkeit gemischt mit dem Verdacht, ich sei doch dümmer als gedacht…
Happy End
Amélie Nothomb: „Déodat und Trémière“
Aus dem Französischen von Brigitte Große
erschienen am 26.09.2018 im Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-07042-2
Diese Besprechung erschien zuerst auf fraulehmannliest.com