„Alle, außer mir“ von Francesca Melandri ist nicht nur das Lieblingsbuch der Unabhängigen sondern auch meins – oder eben umgekehrt.
Die im wahrsten Sinne des Wortes große Geschichte, die die römische Autorin hier erzählt, bleibt haften. Sie lässt mich seit Wochen nicht los. Das ist durchaus nicht nur angenehm, denn was Attilo Profeti Senior und seine italienischen Genossen früher getan und was italienische Politik bis heute zugelassen hat, wird schonungslos, detailliert und so wahrhaftig erzählt, dass man es nachprüfen muss, um es nicht 1 zu 1 für bare Münze zu übernehmen.
Melandri rollt den Kolonialismus und Faschismus Italiens ebenso vor uns aus wie die Situation der heutigen Flüchtlinge; denn als solcher erreicht Attilo Profeti junior seine Schwester Ilaria in Rom. Ich habe nur wenige Darstellungen gelesen, die das Erleben heutiger Flüchtlinge während ihrer Flucht, vom Gefängnis bis zum Dahinsiechen auf den Booten beim Überqueren der Meere zu echten Bildern werden lassen. Eindringlich erzählt Melandri das für Außenstehende ereignislos erscheinende Warten in den Flüchtlingsunterkünften. Gerade so, als ob wir es alle genau wissen müssten. Dankenswerter Weise kennen sich Ilaria und ihr kritischer jüngerer Bruder nicht aus und fragen nach. So schildert Attila geradezu minutiös seine Flucht und sein Warten auf einen Beschluss, der ihm erlaubt, im Land seines italienischen Vaters zu bleiben. Je intensiver sein Bericht über seinen Teil der Familiengeschichte, um so leichter fällt es den überraschten Geschwistern, ihm zu glauben. Irgendwann wiegen sein Schicksal und das seines Volkes so schwer, dass es beiden egal ist, ob er nun ein echter Halbitaliener und Verwandter ist oder nicht. Eine Schuldfrage stellt er nicht und die Geschwister diskutieren sie nicht, aber sie schwingt mit.
Das Netz unterschiedlicher Charaktere und wahnwitziger Verknüpfungen des Vaters, des Onkels und der Söhne ebenso wie der von larias Geliebten mit Geschichte und Politik Italiens im Laufe des 20. Jahrhunderts ist beeindruckend vielfältig und doch so klar. Als Leser*in ist man in diese politisch-historische Familiengeschichte so intensiv hineingezogen, dass die komplexen Konstellationen immer nachvollziehbar bleiben.
Komplexität entsteht durch das Aufdecken der Geheimnisse, vor allem derer des Vaters. Er führte mehr als ein Doppelleben, verheimlichte Geliebte und Sohn in Äthiopien. Denn so haben es alle gemacht. Ich war nicht vertraut mit den historischen „Verbindungen Italiens nach Äthiopien und Eritrea“ – wobei diese Umschreibung im Kladdentext für mich alles andere als treffend ist: Die italienischen Kolonialherren waren der Schrecken für Äthiopier und Eritreer – ob sie die Frauen, die sie dort trafen und schwängerten liebten oder nicht. Gerettet wurde, wer die richtige Hautfarbe hatte, ohne jeden Respekt für die „besetzten“ Menschen, menschenverachtend. Genau an diesem Punkt schließt sich der Faden zum Schicksal heutiger Flüchtlinge, erzählt im Roman und übertragen auf heutige gesellschaftliche und politische Strömungen: Was bedeutet es, im „falschen“ Land geboren zu sein?
Melandris „Alle, außer mir“ ist ein Lese-Muss. Die Übersetzung ist ausgezeichnet; wie eindringlich die Geschichte in ihrer Muttersprache wirkt, kann ich leider nicht prüfen. Aber ich werde mir unbedingt ihre Vorgängerromane besorgen „Eva schläft“ und „Über Meereshöhe“.
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