Schreibwerkstatt

von

In meinem Buch „Geschichten aus der Rodina“ habe ich den ersten Versuch unternommen, die ungewöhnliche Geschichte meiner Eltern aufzuschreiben.
Sie beginnt mit der Auswanderung meines Vaters 1924 von Deutschland nach Russland in der Hoffnung, dort Arbeit zu fin-den. Eines Tages begegnet ihm unsere Mutter. Sie heiraten und bekommen erste Kinder.
1934 zieht es ihn zurück nach Deutschland. Sie geht nicht gerne in das fremde Land, aber sie geht mit. Sie erträgt den Hass, der ihr als Russin in Deutschland entgegenschlägt, sucht ihren Platz in der Erziehung ihrer Kinder, die sich gleichfalls in der fremden Welt behaupten müssen.
Sie halten als Familie zusammen und bekommen fast jedes Jahr ein Kind dazu. Den Hitlerorden dafür lehnt sie ab.
Die Kinder kennen sie als strenge selbstbewusste Mutter, die sie liebevoll umsorgt und ihnen beiseite steht, wenn andere Leute sagen: Ihr Russenpack.
Gern erzählt sie ihnen Geschichten aus ihrer alten Heimat. Im-mer wieder dieselben. Ihr Leben lang. Alle lauschen mit großen Ohren, wenn sie von schönen Kleidern und Fahrten in Kutschen erzählt, aber auch, wenn sie davon spricht, wie sie als junges Mäd-chen ganz allein mit ihrem kleinen Bruder auf der Flucht war. Im-mer hatten sie Angst, man würde sie einfangen.
Irgendwann wurde sie von ihrem Bruder getrennt.
Meistens, wenn ihre Geschichten so richtig spannend wurden, kam unser Vater in die Stube und fragte: „Erzählst du schon wieder von der Rodina? Vergiss nicht, ich habe dich aus dem Kinderheim geholt.“
Dort hat sie zu dem Zeitpunkt gearbeitet, als sie sich kennen-gelernt haben.
Als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, lebten wir als Familie in Hannover. Deutschland wurde geteilt. Man riet uns, in die russische Besatzungszone zu gehen, dort wären wir willkommener.
Wir gingen und waren wieder Außenseiter, da meine russische Mutter mit ihren vielen Kindern von ihren Landsleuten wie eine solche behandelt wurde.

Nun wollte sie endlich wieder nach Russland, in den Ural. Dort wo einst ihre Wiege stand.
Im April 1958 siedelten wir alle um, meine Eltern und wir drei-zehn Kinder.
Die Bahnfahrt war lang, wir Kinder sprachen Deutsch, und schon im Zug wurden wir als Faschisten bezeichnet, die sich zu-rück nach Deutschland scheren sollten. Wir haben es nur ein halbes Jahr dort ausgehalten und sind 1958 im Oktober zurück in den Osten Deutschlands. Da war ich 10 Jahre alt.
Unsere Familie wurde kleiner, es gab neue Familien und wieder Kinder. Heute leben alle ihr eigenes Leben.
Meine Mutter ist 1982 gestorben. Ich habe mich viel mit ihr unterhalten, wollte mehr über das wissen, was sie uns als Kinder immer und immer wieder erzählt hat. Ich habe gespürt, dass es da etwas gab, was niemand von uns ahnte.
Viele Jahre nach ihrem Tod bekam ich einen Brief von meiner Schwester aus Amerika, in dem sie schrieb: „Ich schicke Dir Bilder, ich glaube, unsere Mutter war die Zarentochter Maria.“
Ich begann, die Erinnerungen an meine Kindheit aufzuschreiben.