Schon länger fragt man sich, was bloß los ist in Syrien, liest Berichte, sieht Dokumentationen und kann es sich trotzdem nicht wirklich vorstellen.
Dieses Buch schafft da Abhilfe. Mit der Schauspielerin Amal und dem Arzt Hammoudi, deren Leben hier abwechselnd beleuchtet wird, ist man hautnah dabei.
Hammoudi hat gerade sein Medizinstudium in Paris beendet und sieht einer hoffnungsvollen Zukunft entgegen. Er muss nur kurz zu Hause in Syrien seinen Pass verlängern lassen, dann ist alles bereit. Als man ihn nicht wieder ausreisen lässt, ist es aus mit seinem selbstbestimmten Leben. Regierung, Polizei, seine Familie oder auch befreundete Freiheitskämpfer, alle wissen genau, was Hammoudi zu tun hat, nur leider gefällt ihm nichts davon.
Amal hat ihr erstes großes Engagement als Schauspielerin in Damaskus ergattern können. Es geht ihr gut, ihre Eltern sind wohlhabend. Sie meint, sie hätte alles Recht der Welt, öffentlich gegen das Assad-Regime zu protestieren, muss aber feststellen, dass das eine naive Vorstellung war. Plötzlich fühlt sie sich verfolgt.
Sehr eindrucksvoll landet man hier mitten im syrischen Alltag, kurz bevor der Bürgerkrieg das Leben bestimmte. Man lernt junge Leute kennen, deren Träume und Ziele sich nicht sehr von unseren unterscheiden, die aber bisweilen mit nahezu irrwitzigen Restriktionen zu kämpfen haben. Nicht nur Familienzugehörigkeit oder Traditionen setzen Grenzen, auch ein falsches Wort am falschen Ort kann einem das Leben kosten. Spitzel des Regimes sind überall, muslimische Fundamentalisten halten auch Ausschau nach Ungläubigen, einfachste Anliegen sind nur mit Schmiergeldern zu erreichen.
Schon an dieser Stelle ist man schockiert und hat fast Angst vor dem Weiterlesen. Aber dann landet man mitten im Krieg.
Dieses Buch zeigt, wie Menschen gezwungen werden können, ihr Land zu verlassen, obwohl sie das niemals wollten. Es ist ein erschütternd aufschlussreicher Beitrag zur aktuellen Flüchtlingssituation und zur Lage in Syrien.
Olga Grjasnowas Sprache ist von geradezu kunstvoller Schlichtheit. Es liest sich leicht, ist trotzdem sehr plastisch und zieht einen schnell hinein in eine Tragödie, die noch immer Menschen täglich erleben.
„Gott ist nicht schüchtern“ ist ein großartiges Zeitzeugnis, das wenig Hoffnung macht, aber dennoch jeder lesen sollte.
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