Orpheus

Nach einer Auswahl und mit einem Nachwort von Katharina Kilzer (Hrsg.). Übersetzungen aus dem Rumänischen von Maria Herlo, Katharina Kilzer und Horst Samson. Deutsch-Rumänisch

von

„Als Ana Blandiana im März 2016 den Preis Europäische Dichterin des Friedens für ihren Gedichtband ,Patria mea A4‘ (Mein Vaterland A4) in Danzig erhielt, der polnischen Stadt des Friedens und dem Geburtsort der Solidarność, waren die Gedichte bereits in fünf Sprachen übersetzt (Englisch, Spanisch, Italienisch, Polnisch und Katalanisch). Die Jury erkannte in dem Gedichtband eines der großen europäischen Bücher über die Freiheit. Ihre Verse erschöpfen das Motiv der Freiheit in all seinen verschiedenen Aspekten: meditativ, philosophisch, öffentlich und persönlich. Ihre Poesie fasziniert mit metaphorischer Direktheit, philosophischer Tiefe und dem Wunsch, das Unaussprechliche auszudrücken. Die Überzeugung der Dichterin, dass die Existenz des Menschen im Mysterium beheimatet ist, lässt viele ihrer Gedichte rätselhaft erscheinen: Poesie ist dem Wunsch entsprungen, auszudrücken, was nicht ausgedrückt werden kann, aus dem Eigensinn heraus zu definieren, was jeder als undefinierbar erkennt, aus der Not-
wendigkeit heraus, den Menschen etwas zu bieten, was sie nicht verstehen, etwas, was sie aber immer vermissen“, schreibt Viorica Patea, die Ana Blandianas Gedichte und Erzählungen ins Englische und Spanische übertragen hat.
Die Gedichte Ana Blandianas zu übersetzen war ein Abenteuer, auf das wir uns einließen, aber auch eine Versuchung, der nur schwer zu widerstehen ist, da sie uns lockte, mit ausgesprochener Klarheit und der unmessbaren Tiefe ihrer Verse. „Im Rumänien der siebziger Jahre waren ihre Gedichte Hoffnungsträger und ein Akt des Mutes. Sie avancierte damit zu einer Legende von makellosem Idealismus. Eine bestimmte Aura umgab ihren Namen. Ein Literaturkritiker nannte sie damals, den ,nobelsten Namen in rumänischer Sprache‘. Wer ihr Charisma, ihren Optimismus und ihren Altruismus kennenlernte und wer ihr beim Zitieren ihrer Gedichte zuhörte – in den achtziger Jahren versammelte sie in ihrem Land Massen von Menschen –, erlebte einen mystischen Moment, wenn Poesie trotz mancher Sprachbarrieren kommuniziert werden kann, ohne dass sie verstanden wird.“
Die vorliegende Auswahl der Gedichte ist vorwiegend dem Gedichtband „Mein Vaterland A4“ (Patria mea A4) aus dem Jahre 2010 entlehnt, dessen hermetischer Titel auf das europäisch genormte DIN-A4-Blatt Bezug nimmt, dessen Grenzen die Definition der Identität der Dichterin ausmachen. Die Poesie wird hier ihr alleiniges Epizentrum und zugleich ihr Exil. Weitere Gedichte sind dem Gedichtband aus dem Jahre 2016 „Die Turmuhr ohne Stundenblatt“ (Orologiul fără ore) entnommen, der zusammen mit „Mein Vaterland A4“ eine Wende in der Poesie Ana Blandianas darstellt, da ihre Verse universeller sind. Die Dichterin sieht sich als Zeuge der Welt, die sie bewohnt, und sie glaubt fest daran, dass Poesie die Kraft der Wiedergabe von Erfahrungen hat, aber keineswegs eine Reihe von Ereignissen darstellt, sondern eine Folge von Visionen evoziert. Die Übersetzer haben auch einige ihrer Lieblingsgedichte aus weiteren Gedichtbänden, die vor 1989 und nach der Wende erschienen sind, für diesen Band übertragen. Denn viele Gedichte Ana Blandianas sind Dokumente des kollektiven Gedächtnisses eines Volkes, wie das vielzitierte Gedicht „Eu cred“ (Ich glaube), erstmals 1984 in der Zeitschrift „Amfiteatru“ (Amphitheater) veröffentlicht:

„Ich glaube, wir sind ein Volk von Pflanzen,
Woher käme sonst die Ruhe,
Mit der wir auf die Entlaubung warten?“

Ana Blandiana aber nur auf ihre besonders populären Gedichte zu reduzieren, würde ihrer Dichtung bei weitem nicht gerecht werden. Sie definiert ihre Poesie immer wieder neu, mit jedem veröffentlichten Gedichtband. Ist es die Schaffung eines neuen Landes mit Wörtern neben Bäumen, Wasser, Strand, Städten, Kirchen, Dörfern und Äckern, gefallene Engel, die ihren Weg zurück zum Himmel nicht mehr finden oder die Turmuhr ohne Stundenblatt, die aus der Zeit gefallene Sanduhr, die zwischen Augenblicken eingefangen wird? Blandiana projiziert visionäre Räume aufs Papier, sie drückt den Bedarf nach Liebe, Schönheit und Wahrheit in Versen aus, ein existenzielles Bedürfnis nach Authentizität. Dementsprechend sind die ausgewählten Gedichte thematisch nach Raum, Zeit und Erkenntnis angeordnet.
Der Titel für diesen Band, „Geschlossene Kirchen“, wurde nach dem von Horst Samson übersetzten Gedicht Ana Blandianas ausgewählt, eine schlüssige Metapher für Zerstörung und Verluste einer Gesellschaft. Das Gedicht der „geschlossenen Kirchen“ hat die Dichterin nach eigener Aussage während eines Besuchs in Köln geschrieben. Während in Deutschland immer mehr Kirchen geschlossen und umfunktioniert werden, ist Rumänien dafür bekannt, dass in den Jahren nach der Wende zahlreiche Kirchen neu erbaut wurden. Laut einer Veröffentlichung von 2013 des Nationalen Instituts für Statistik gibt es in Rumänien mehr als 18.000 Kirchen und nur etwa 4.000 Schulen. Wenn man durch das Land von Norden nach Süden, Westen nach Osten fährt, trifft man auf viele Neubauten von Kirchen in der Stadt als auch in den Dörfern. Solchem Bau-Eifer stehen die Pläne der „Systematisierung“ von Städten und Dörfern, die Zerstörung von Kirchen und anderen Kulturstädten gegenüber, die der Diktator Ceausescu entworfen hatte, um sich eine neue Welt zu schaffen. Es sollte eine Welt entstehen, in der der sogenannte „neue Mensch“ keine Erinnerung mehr hat an die Vergangenheit, das führte zur Zerstörung vieler Kirchen und Klöster im Land. Vor der Herbstrevolution von 1989 kursierte in Bukarest die Konjugationsform des Verbs „bauen“ in folgender Form: ich baue, du baust, er reißt ab! – ein Scherz gegen die Systematisierungspläne des rumänischen Diktators Nicolae Ceauşescu gerichtet. Er ließ Kirchen, Städte und Dörfer niederreißen, Kulturschätze unwiederbringlich zerstören, um seine Pläne zu verwirklichen. Ana Blandiana thematisierte auch dieses Drama in ihrer Lyrik und Prosa. Das Nicht-Aufbäumen ihres Volkes gegen all die Ungerechtigkeiten war ein weiteres Thema der engagierten und couragierten Dichterin des „Pflanzenvolks“. Mit ihren Gedichten hat sie den verschwundenen Kirchen, Orten und Menschen ihre geraubte Identität zurückgegeben.
Durch Poesie lässt sich die Welt verändern. Wenn Dichter die Welt erschaffen hätten, sähe sie heute anders aus – so die Dichterin.

Katharina Kilzer,
Wiesbaden im Dezember 2017