Das Jubiläumsjahr für den großen Maler aus Venedig, Jacopo Tintoretto (1518/19-1594), begann 2018, da man früher seine Geburt auf Herbst 1518 angesetzt hatte. Mittlerweile hat sich durch die Untersuchungen von Linda Boreau herausgestellt, dass Tintoretto erst im Frühjahr 1519 auf die Welt kam.
Insofern kommt diese jetzt vorliegende Neuerscheinung genau zum richtigen Zeitpunkt heraus, dem 500-Jahr-Jubiläum des Künstlers. Auch zu den großen Tintoretto-Ausstellungen in Köln und Venedig wurden opulente Kataloge vorgelegt. Doch diese Neuerscheinung unterscheidet sich erheblich von der bisherigen Tintoretto-Literatur, sie sich überwiegend mit der scheinbar attraktiveren Seite seines Œuvre befasst.
Venedig-Reisende nehmen vor allem die touristischen Attraktionen wahr:
Tintorettos großformatigen, wandfüllenden Darstellungen des Markus-Mythos.
Zum Œuvre gehören aber außerdem 152 Portraits von venezianischen Zeitgenossen Tintorettos. Diese sieht man nicht in Venedig, denn sie sind über die Museen der Welt verstreut. Vor fünfzig Jahren hat Paola Rossi versucht sie zu erfassen und erstmalig das Portrait-Œuvre zu publizieren.
Leider war es damals fast nur schwarz-weiß möglich.
Dieser Vorgang war mit Schwierigkeiten verbunden, weil so manches Gemälde Bestandteil britischer Privatgalerien war, die z.Z. unzugänglich waren; manche davon sind mittlerweile via Kunsthandel in öffentlichen Sammlungen wieder aufgetaucht. Doch von den 152 Portraits sind 70% namenlos und bei den weiteren sind die bisherigen Benennungen z.T. strittig.
Zwar sind viele Museen stolz darauf, ein Tintoretto-Portrait zu besitzen; aber sie können nicht sagen, welche Person darin steckt. Auf den Kärtchen dazu steht mehr oder weniger monoton: portrait of a man. Nachforschungen wurden so gut wie nicht betrieben. Die Besucher konnten den prominenten Künstler bewundern, mussten aber auf den Namen verzichten und Information, in welchem Verhältnis er zu dem Dargestellten gestanden hatte.
Diese Leerstellen bildeten für Christoph Wilhelmi eine Herausforderung, als er bei seinen Identifizierungsbemühungen von namenlosen Portraits der Renaissance in die Endphase der Renaissance vorrückte. Sehr bald stellte sich heraus, welche Hindernisse bei den Recherchen zu überwinden waren. Während für eine Stadt wie Bologna ein spezielles biographisches Lexikon existiert, fehlt ein solches für Venedig und sein zum Stadtstaat der serenissima gehöriges Umland. Somit erklärte sich die frühere hohe Quote der namenlosen Portraits.
Obwohl sich Tintoretto bei seiner raschen Art zu malen oft auf Gesicht und Hände beschränkte, hat er doch hin und wieder Hinweise in die Gemälde eingefügt, die Anhaltspunkte bilden, sich der gesuchten Person zu nähern. So gelang es schließlich, durch Ausdauer und eine spezielle Methodik, immerhin 40 der namenlosen Bilder zu identifizieren. Diese sind in dem hier vorgestellten Buch zusammengefasst. So wird der Leser mit den Viten prominenter Venezianer bekannt und erfährt durch die Viten erstaunlich viele Zusammenhänge über die Aufgaben venezianischer Funktionäre (Politiker, Seeoffiziere, Behörden-Kontrolleure), aber auch – und das in überraschend hoher Anzahl – von kulturell aktiven Persönlichkeiten in der serenissima, aus dem Bereich Musik, Theater und dem in Venedig stark vertretenen, damals noch jungen Buchsektor.
Tintoretto stand ganz offenbar mittendrin im gesellschaftlichen Leben der Republik. Es gelang ihm, vielerlei Staatsaufträge zu bekommen. Wenn er Repräsentationsportraits von Stützen der Gesellschaft schuf, beschränkte er sich nicht nur auf Auftragsarbeiten, sondern malte außerdem offenbar eine erhebliche Anzahl von Freundschaftsbildern von Persönlichkeiten unterschiedlichster Art des venezianischen gesellschaftlichen Lebens. Hierbei spielen die Sccuole (kirchliche Vereine) eine wichtige Rolle. Sie ergaben zusammengenommen ein Netzwerk im Stadtstaat, das erstaunlich viele Facetten hatte und tiefe Einblicke ermöglichte
- Veröffentlicht am Samstag 23. November 2024 von buch.one Verlag Offsetdruckerei Grammlich
- ISBN: 9783947198177
- 172 Seiten
- Genre: Belletristik, Essays, Feuilleton, Interviews, Literaturkritik