Stefan Hertmans Roman „Krieg und Terpentin“ war eine der großen Entdeckungen des Jahres 2018 für mich. Selten hat mich ein Buch so in Bann gezogen, wie dieses über das Leben von Hertmans‘ Großvater.
Daher war es sehr naheliegend, auch Hertmans‘ neues Buch zu lesen, das so ganz anders ist und irgendwie doch ähnlich. Auch hier begibt sich Hertmans auf Spurensuche, folgt den Wegen seiner Protagonistin bis nach Kairo, versucht einen Lebensweg zu entschlüsseln. Doch diesmal liegt dieses Leben weit zurück, um 1100 im tiefsten Mittelalter, zur Zeit der Kreuzzüge. Hertmans stößt auf Texte über eine junge Normannin adliger Herkunft, die zum Judentum konvertiert. Und recherchiert, bis er dieses Leben in Grundzügen vor sich sieht.
Vigdis verliebt sich bei Spaziergängen mit ihrer Gouvernante in ihrer Geburtsstadt Rouen in den jungen jüdischen Scholaren David, Sohn des Oberrabiners von Narbonne. Man versucht, diese Liebe zu unterbinden und schickt Vigdis in ein Kloster, aus dem ihr mit Hilfe Davids die Flucht gelingt.
Wenn man bedenkt, in welcher Zeit wir uns befinden, sind diese wenigen Sätze ungeheuerlich. Eine junge Adlige, gebildet und gut ausgebildet, um eine Ehe nach Wunsch des Vaters einzugehen, eine Ware also, die teuerstmöglich verkauft werden soll, um Verbindungen und Reichtum zu bringen, flieht mit einem jüdischen Mann, den sie gar nicht kennen sollte geschweige denn lieben, aus dem Elternhaus. Nicht mit irgendeinem Mann, was schon schlimm genug wäre, nein, sondern mit einem jüdischen, einem Christusmörder. Wir erinnern uns, es wird nicht mehr lange dauern, bis Papst Urban II zu den Kreuzzügen aufrufen wird, um Jerusalem von allem unchristlichen zu befreien.
Die beiden Liebenden ziehen auf geheimen Wegen nach Narbonne, zu Davids Familie. Dort konvertiert die inzwischen schwangere Vigdis und wird sich nun Hamutal nennen.
Welche Eigenständigkeit und Kraft es zu damaliger Zeit von einer jungen Frau verlangt, diesen Weg zu gehen, ist heute kaum noch vorstellbar. Und so wird Hamutal auch kein friedliches Leben verbringen. Beständig auf der Flucht vor den Häschern des Vaters und als Jüdin für viele Freiwild, wird sie nur wenige halbwegs glückliche und ruhige Jahre haben. Sie wird für ihre Kinder bis nach Kairo reisen, wo ihre Lebensgeschichte in der dortigen Synagoge per Zufall erhalten bleibt und lange, lange Zeit später in Hertmans Hände gelangt.
Diese Lebensgeschichte ist genauso faszinierend wie grausam, zeigt sie doch die Kraft der Liebe gegen religiösen Extremismus. Wie friedlich hätte Hamutals Leben verlaufen können, gäbe es keine Religionen mit dem Anspruch auf alleiniges Recht.
Hertmans gelingt es, Hamutal eine Stimme zu geben, einen Platz in der Erinnerung. Es gelingt ihm, ihr besonderes Schicksal behutsam hervorzuheben, vom Staub zu befreien.
Und obwohl Hamutals Leben im dunklen Mittelalter gelebt wurde, weit weg von unserer heutigen Zeit, wie viele Frauen sind wohl heute genauso wie sie auf der Flucht? Um ihre Liebe zu leben, um Kinder in Sicherheit zu bringen, um ein lebenswertes Leben führen zu können? Die Parallelen sind erschreckend. Der religiöse Extremismus ist noch genauso stark wie auch der Judenhass, in weiten Teilen der Welt dürfen Frauen immer noch nicht frei über ihr Leben verfügen und Kreuzzüge heißen inzwischen nur anders. Wie weit also sind wir trotz aller Technisierung wirklich entfernt vom „düsteren“ Mittelalter?
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