Winter: die tote Zeit, die Mitternachtsstunde, das Sterben des Lichts. Aber auch: die Zeit der Gäste, der Geschenke, der Weihnachtserinnerungen, der Klarheit und des Anfangs. Im zweiten Teil ihres Jahreszeiten-Quartetts, das mit „Herbst“ begann, bringt Ali Smith all diese Wintermomente in Beziehung zueinander. Sie ruft alte Geschichten auf und erneuert sie, sie erfindet Leben, das hartnäckig in den Evergreens leuchtet. Sie blickt auf eine Zeit der Lügen und des Leids zurück und entwirft daraus einen Roman, der in seiner assoziativen Freude eine neue positive Vision vorschlägt. Ein Roman, der gerade in diesem Winter lesenswert ist.
Die Geschichte ist nicht als direkte Fortsetzung von „Herbst“ angelegt, jedenfalls nicht in Bezug auf Handlung und Figuren, aber das neue zweite Buch bezieht sich in Zeichen und Symbolen lautstark auf das erste. Sie zu suchen überlasse ich mal euch (sonst wird das hier zu langatmig).
Sophia, die älter werdende Protagonistin des Winters ist ehemals erfolgreiche Geschäftsfrau, inzwischen mehr oder weniger im Ruhestand. Weniger, weil sie noch allen möglichen Krimskrams aus ihrer Scheune handelt. Sie lebt in Cornwall, aber nicht in dem Rosamunde Pilchers. Wenn bei ihr zu Weihnachten eine ungeladene familiäre Gruppe zusammentrifft, läuten nicht gleich die Hochzeitsglocken.
Mit Sophias Schwester kommt eher Protest ins Haus geschneit – und immer wieder Anlass für kritische Diskussionen. Der Roman wirft Gesellschaftsfragen auf. Wer hilft der Gesellschaft eher weiter: die Unternehmerin oder die Altsechziger-Protestlerin, die geradewegs aus einem Flüchtlingscamp in Griechenland kommt. Die Antwort gibt Ali Smith nicht, aber sie zeichnet sehr deutlich und sehr lesenswert beide Positionen nach. Sie feiert diejenigen, die sich der Gesellschaft verpflichtet fühlen und die Alpträume vom nuklearen Winter hatten – und die etwas dagegen tun wollten. Iris, Sophias Schwester, ist auch mit 70 Jahren noch eine zähe Weltbürgerin. Sie tut heldenhafte Dinge, aber ihre Vision wird nicht über das Weltbild ihrer Schwester erhoben.
Gemeinsam, oder besser gesagt abwechselnd, haben die Schwestern Sophias Sohn Arthur groß gezogen. Arthur arbeitet für eine Sicherheitsfirma, die damit beschäftigt ist, Urheberrechtsverletzungen aufzuspüren. Eine eher langweilige Angelegenheit. Viel lieber wäre Arthur Naturschriftsteller – dafür sammelt er Wissen in seinem „Art in Nature“-Blog. Er ist meist mürrisch und eigentlich gar nicht wirklich an seiner Außenwelt interessiert, weder an der Natur, geschweige denn an Mutter und Tante. Und doch gibt Smith ihm, wie vielen ihrer Figuren die Fähigkeit, Hirngespinste zu sehen, denn „Wo wären wir ohne unsere Fähigkeit, über das hinaus zu sehen, was wir sehen sollen?“ Also darf er noch träumen…
Ein sehr konkretes ‚Hirngespinst‘ ist Lux: Sie kommt als vermeintliche Freundin Arthurs ins Haus. Er hat sie an einer Bushaltestelle angesprochen und zum Weihnachtsabend mitgebracht, um nicht ohne Begleitung dazustehen. Wer ist sie? Sie ist eigenwillig, kann irgendwie alles, betrachtet alles aus einem mythischen Blickwinkel und bringt doch so etwas wie normalen Alltag ins Haus, wenn sie Rühreier rührt, Sophia beruhigt, wie es sonst niemand kann, und berührend und zufrieden von ihrer Arbeit in einer Verpackungsfabrik spricht. Lux ist Licht – und einmalig in diesem ‚Winter‘.
Sie ist der Lichtblick, der hoffen lässt, dass Proteste etwas bewegen und es eine Chance auf Schutz und Frieden gibt – auf Schutz der Natur, der Flüchtlinge, der Gesellschaft und Frieden nicht zuletzt in der Familie. Und das nicht nur zur Weihnachtszeit. Aber gerade jetzt kann man diesen Roman gut lesen!
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