Walter Rathenau

Erinnerungen eines Freundes

von

Am 22. Juni 1922 setzte in Berlin ein Attentat von Rechtsextremisten dem Leben des deutschen Politikers, Publizisten und Wirtschaftsmagnaten Walter Rathenau ein Leben. Der spektakuläre Anschlag aus einem fahrenden Auto galt ihm durchaus auch als Juden – und zugleich der ersten deutschen Republik, die er als Außenminister international erfolgreich repräsentierte. Daß der politische Mord nicht isoliert zu sehen ist, machten Fälle aus ähnlichen Motiven deutlich. Zum nächsten prominentes Mordopfer der Untergrundakteure der sogenannten „Organisation Consul“ – in die auch der Schriftsteller Ernst v. Salomon verstrickt war – wurde zwei Monate später Finanzminister Erzberger. Staatsfeinde taten auf vielen Ebenen alles, die fragile Weimarer Republik zu unterminieren. Mit Walter Rathenaus Tod wurde nicht nur die Verheißung auf eine bessere Zukunft zunichtegemacht.
Im Unterschied zu den frühen Biographien der zwanziger Jahre zeichnen sich Alfred Kerrs Erinnerungen an Walter Rathenau durch eine ungewöhnliche, veränderte Perspektive aus. Selbst Jude, und ins Exil gezwungen, kann der gleichaltrige Schriftsteller und Kritiker dem Mord an seinem Weggefährten und jahrelangen Freund bereits eine Dimension zuweisen, die ihn als einen der ersten Schritte hin zu einem Gewaltregime des Nationalsozialismus deutet. Daher widmet sich Kerr umso ausführlicher dem Thema des Antisemitismus. Brisanz erhält sein Buch dadurch, daß er einen empfindlichen Dissens zwischen Rathenau und sich bloßlegt. Das betrifft bedenkliche antisemitische, rassistische und nationalistische Züge in frühen Äußerungen Rathenaus. Seinen Abstand machte Kerr 1912 in der Zeitschrift Pan in einem Essay öffentlich – „Abrechnung und Wendepunkt“ nennt er diese Phase aus der Rückschau. Allerdings bescheinigt der Verfasser Rathenau anschließend eine klare Wendung, die als positiv verstanden wissen will. Dazu wird deutlich, daß ideologisch manche Nähe zwischen Rathenau und seinen Feinden bestand – was den Antisemitismus als Tatmotiv umso dringlicher erscheinen läßt.
Alfred Kerrs privater Blick auf den Freund bietet anekdotisch wie analytisch überraschende und intime Einblicke in die Lebensverhältnisse und Ansichten Walter Rathenaus. Sie wurden, in Kenntnis der beachtlichen vorangegangenen Biographien, zu einem ganz eigenen Lebensbild, das zugleich tiefe Einblick in Alfred Kerrs gesellschaftlichen Rang, seinen geistig-politischen Werdegang und seine Überzeugungen gibt. Zusätzlich ist es das Panorama einer großbürgerlichen Berliner Bohème, zwischen den Villen rund um den Grunewald und dem Berliner Westen. Zeitgenossen wie Frank Wedekind, Bernard Shaw, Max Reinhardt, Maximilian Harden, Rainer Maria Rilke werden in ihrem Verhältnis zu Rathenau beschrieben, dazu Politiker wie Wilhelm II., Reichspräsident Ebert und Reichskanzler Wirth, Finanzgrößen wie Hugo Stinnes oder der Bankier Carl von der Heydt; Familie wie Edith Andreae, die Schwester Walter Rathenaus, die Mutter, der Vater. Betrachtet wird die Epoche vor und nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Mordanschlag. Nach seiner Flucht ins Ausland verfaßt, nimmt Kerr mit in den Blick, wie sich einstige Weggefährten wie Gerhart Hauptmann, der gründlich portraitiert wird, nun auf die neuen Machthaber einlassen. Für den Autor steht dagegen fest, daß Deutschland für ihn nie wieder Heimat sein kann.
1935 im Exil erschienen und nur kurz im Handel, legen wir Alfred Kerrs äußerst seltenes, fast unbekannt gebliebenes Buch zum ersten Mal neu auf – hundert Jahre nachdem der politische Mord an Walter Rathenau Deutschland erschütterte. In einer Zeit, in der unterschätzte oder bewußt ignorierte rechtsextreme terroristische Netzwerke, nicht nur mit den NSU-Morden, eine bedenkliche Neuauflage erleben.