Die innere Stimme

Tagebücher 1950-52 // 1956-61

von

Die innere Stimme, der für dieses Buch ausgewählte Titel, ist ursprünglich der Name einer Skulptur, die Hein Semke 1933 schuf. Die etwa 80 cm hohe Figur stellt einen Propheten oder Apostel dar, die rechte Hand muschelförmig an das Ohr gelegt, während er mit der linken ein kleines Buch mit einem eingeritzten Kreuz gegen die Brust drückt. Jemand, der lauscht, was in seinem Inneren vorgeht. 1957 hielt der Künstler lakonisch fest: „Ich muß wirklich bald daran gehen, mein Leben aufzuzeichnen.“ Man wird fragen: wozu ein Tagebuch veröffentlichen? Ein Tagebuch ist der Versuch eines Selbstverstehens, ein Spiegel des Inneren, eine prüfende Begegnung mit sich selbst und für Schlußfolgerungen aus diesem Verstehen. Indem es gelesen wird von anderen – und jenseits der normalen Befriedigung eines natürlichen Voyeurismus –, gewinnt es eine dialogische Dimension von Zeugnis und Beispiel, eine inspirierende ethische Dynamik. „Ich mache keine Kunst um der Kunst willen, sondern um meine Individualität aufzubauen. Die Vollkommenheit des Menschen ist das letztgültige Ziel – die vollständige Einheit des Menschen. Es gibt so viele Wege wie Individuen.“ Das Tagebuch, das Semke 1950 zu schreiben begann, zeugt vom entbehrungsreichen Leben eines Künstlers unter den politischen Umständen zur Zeit der Salazar-Diktatur, von Zweifeln und der unbedingten Hingabe an die Kunst als Mission, von einem emsigen Akteur und scharfen Beobachter, der tolerant und großzügig war, von leuchtender Heiterkeit und überraschender Phantasie, der das Leben leidenschaftlich liebte. Hein Semke (1899-195): geb. in Hamburg, Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, fünf Jahre Einzelhaft wegen anarchistischer Aktionen, 1929 erste Reise nach Lissabon, Fabrikarbeit, Kunststudium, 1932 Emigration nach Portugal, Arbeit als Bildhauer, Keramiker, Maler, Lyriker und Künstlerbuchgestalter, 1935 Verfemung seiner Skulpturen als „entartet“ und Zerstörung der Kriegsgruppe Kameradschaft des Untergangs durch NS-Anhänger, 1936 Beteiligung am spanischen Bürgerkrieg, zahlreiche Ausstellungen, hauptsächlich in Portugal, Arbeiten im Garten der Gulbenkian-Stiftung, Rektorat der Universität.