Still will ich nicht werden

Gesammelte Werke, Band 1

von

„Diese Geschichte ereignete sich kurz nach Vollendung meines zweiten Jahres und gehört zu meinen frühesten Erfahrungen.
Er war schon da, der gelbe Kanarienvogel, als die Erinnerung des kleinen Mädchens begann. In der Küche, auf dem Deckel der Nähmaschine stand sein Bauer und durfte nicht an einen anderen Platz gesetzt werden, weil mein Vater erklärte, der Vogel habe dort sein „Revier“. Ich liebte meinen Piephans, der zur Familie gehörte wie Vater und Mutter. Er antwortete, wenn ich ihn rief. Dieses Spiel der gegenseitigen Rufe trieben wir stundenlang.
Damals gab es noch Öfen, und Kohlen waren teuer. So heizte man die gute Stube nur zum Sonntag und ließ dafür den Küchenherd erlöschen. Noch erinnere ich mich, wie meine Mutter im Mantel am Gaskocher stand, um das vorbereitete Sonntagsessen zu wärmen.
Schon im November begann ein furchtbarer Winter mit Schneesturm. Aus den Ritzen der Fenster zog Kälte, fühlbar als Schmerz, verbunden mit Pfeifgeräuschen, die mir unheimlich waren.“

„Dr. phil. Anneliese Dornseif wurde am 21. Oktober 1922 in Radevormwald als Tochter des Fabrikanten Fritz Dornseif und seiner Frau Ida, geb. Buschhaus, geboren.
Mütterlicherseits entstammte sie der Familie des Pastors Theodor Crome der evangelisch-lutherischen (altluth.) Martini-Gemeinde in Radevormwald (heute SELK). Die entschiedene Zugehörigkeit ihres Urgroßvaters zum lutherischen Bekenntnis – gegen die obrigkeitlich verordnete Kircheneinheit in Preußen – blieb für ihr Elternhaus und auch Anneliese selbst lebenslang prägend. Die Verbundenheit mit der Kirche und der sie begründenden biblischen Wahrheit gehörte zu den unverzichtbaren Leitlinien ihres Lebens, wie sich etwa an der Wahl des Themas ihrer Dissertation über Evangelische Kirchenlieder zeigt, das sie von ihrem Hauptfach Germanistik hinüber in das Feld der Theologie führte. Der Vater war ein Selfmademan, sozial denkender Gründer einer Sägenfabrik in Radevormwald, Grundlage für die spätere gesicherte wirtschaftliche Existenz der einzigen Tochter. Deren Jugend und Studentenzeit wurden von den bitteren Erfahrungen der Nazidiktatur, des Bombenkriegs und der eigenen schweren Erkrankung überschattet, die sie später literarisch verarbeiten musste.
Wie vielen Angehörigen ihrer Generation blieb ihr das persönliche Glück von Ehe und Familie versagt. Umso stärker entwickelte sie ihren Familiensinn, ihre Verbundenheit mit einer weit gestreuten Verwandtschaft und der Familiengeschichte. Ihre große Wohnung in Wuppertal, angefüllt mit zahlreichen Erinnerungsstücken der Familie und jeder Menge Büchern, stand stets offen für Gäste und ein intensives Gespräch über Gott und die Welt, umso weiter, je mehr sie im Alter krankheitsbedingt an den Lebensbereich der eigenen Wohnung gebunden war.
Ihr Arbeitsleben hatte sie mit großer Hingabe ihrem Beruf als Oberstudienrätin des Else-Laske-Schüler Gymnasiums in Wuppertal gewidmet, den sie mit weit mehr Engagement ausübte, als für eine bloße Erwerbstätigkeit notwendig gewesen wäre, und für den sie andere Betätigungen nicht selten und zuweilen wohl auch nicht ungern zurückstellte.
Ihr literarisches Werk darf nach ihrem Willen erst nach ihrem Tode am 10. Februar 2014 veröffentlicht werden. Ihre Familie dankt der Evangelisch-lutherischen Martini-Gemeinde in Radevormwald mit ihrem Pastor Johannes Dress, die die Herausgabe dieser nachgelassenen Schriften übernimmt, und besonders Frau Elisabeth Nickisch, die mit großem Fleiß die Korrekturen besorgt hat.
Der hier vorliegende zweite Band enthält Gedichte sowie Interpretationen der Autorin. Der hier vorliegende erste Band enthält Memoiren und Prägungen der Autorin.
Der gleichzeitig erscheinende zweite Band unter dem Titel „Lyrik als Lebensbegleitung“
versammelt eigene Gedichte sowie Interpretationen.
Möge sie unter ihren Lesern ein Andenken gewinnen, wie es ihre Familie ihr in dankbarer Erinnerung bewahrt.“

Göttingen, im November 2015
Dr. jur. Dietmar Buschhaus