Circes Tod

von

Im Alter von 94 Jahren war die Frau, die mein Leben am meisten beeinträchtigt, die dem Paradies meiner Kindheit und der heilen Welt meines Zuhauses ein jähes Ende bereitet hatte, unvermittelt gestorben. Was ich mir in jungen Jahren so sehr gewünscht hatte, war eingetreten. Ihr Tod brachte zwar einiges durcheinander, veränderte jedoch entgegen all meinen Hoffnungen nicht viel. Ich flog öfters nach Madrid um ihre Wohnung aufzulösen, um mich endgültig von meiner Vergangenheit zu verabschieden. Es war unwiderruflich Herbst geworden; für Madrid und auch für mein Leben.

Wie in einem Kaleidoskop reihten sich Erinnerungen aneinander, vergessene Episoden meiner Kindheit, Geschichten, die mir meine Großeltern ein halbes Jahrhundert zuvor erzählt hatten, verblasste Bilder eines Spaniens aus den 60er und 70er Jahren, in denen die Gewalt des spanischen, gehobenen Mittelstandes alles bestimmte, Embleme meiner geliebten und gefürchteten Geburtsstadt Madrid und all seiner Pracht, Reminiszenzen aus meiner Pubertät, Ereignisse, die meinen Lebensweg mitbestimmt hatten, Versprechen, die ich mir vor Jahrzehnten gegeben hatte, und deren Gültigkeit abgelaufen war.

In der herbstlichen Einsamkeit meines Familienhauses hatte ich sechs Wochen Zeit, mich mit all dem Gewesenen von Angesicht zu Angesicht auseinander zu setzen, mich von vielem zu lösen und eine definitive Entscheidung zu treffen: Madrid und die Vergangenheit endlich hinter mir zu lassen und mich ganz meinem gegenwärtigen Leben zu widmen.

In bunten Skizzen, Tagebucheintragungen und Erzählungen aus meiner Kindheit und Jugend, augenzwinkernden Visionen, anhand von beherzten Gesprächen mit Lama Rinzin und Beschreibungen meines spanischen Geburtshauses und meines geliebten Madrids, erzähle ich in Romanform von dieser intensiven Zeit – während der die Symmetrie der Vergänglichkeit alles umspannte – und erläutere die Erkenntnisse, mit denen ich trotz aller Enttäuschungen und schmerzhaften Prozesse beschenkt wurde.