Hyle

Ein Traumsein in Spanien

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Die Gleichzeitigkeit und wechselseitige Durchdringung von Fotografie und Schrift kennzeichnet Hyle, das Lebensprojekt Raoul Hausmann, an dem er bis in die 1960er Jahr arbeitet. Ende 1926 beginnt er den ersten Teil seines ‚opus magnum‘, kurz darauf entstehen seine frühesten Aufnahmen an der Ostsee.

Hyle situiert sich abseits literarischer Konventionen, denn der Text folgt der Einsicht, daß ‚Syntax und Grammatik Uniformen sind, die die Sprache abwerfen müsste‘ und nimmt bewußt ‚keine Rücksicht‘ auf das, ‚was man Literatur nennt‘. Unter dem der griechischen Philosophie entlehnten schillernden Titelbegriff ‚Hyle‘, bald Synonym für Stoff und Materie, bald Chiffre für die Frau und den blinden Lebenstrieb, verbirgt sich im Verständnis des Autors das neue ‚Heldenepos, das es zu singen‘ gilt und in dem er selbst unter dem Namen Gal die Hauptrolle spielt.

‚Ich wollte vermitteln, wie für einen durch alle Zusammenbrüche, Einsamkeiten und Zwiespälte gegangenen Mann die Welt über und durch die Frau zum elementaren Erlebnis wird, das nach einer neuen Kollektivität, einer neuen sozialen Struktur, auch einer innerdimensional anderen Bindung, als der heutigen Familie drängt.‘

Zentrale, dialektisch aufeinander bezogene Themen in Hyle sind Liebe und Vereinzelung, Gemeinschaft und Verlassenheit, Zeit und Raum, subjektive Wahrnehmung und objektive Unerkennbarkeit der Welt, Sinnverlust und die allgegenwärtige Suche nach dem Ursprung. Zeichnungen, Lithographien, Fotografien von Landschaften sowie Sachaufnahmen sollten das Textgeschehen veranschaulichen.

Das Werk erschien bekanntlich nicht in der ursprünglich geplanten Form: Der bereits 1969 unter dem Titel Hyle. Ein Traumsein in Spanien (unvollständig) publizierte, zweite Teil ist nur ein fragmentarischer Ausschnitt, dem auf einer realistisch-dokumentarischen Ebene die Fotoserie Ibiza zugeordnet werden kann.

Trotz zahlreicher Einschübe, Rückblenden, Reflexionen, Visionen und anderer Digressionen beschreibt dieser Teil von Hyle einen zeitlich und räumlich klar konturierten Bogen von der Ankunft auf der Insel Ibiza am 28. März 1933 bis zur Abreise am 16. September 1936 und folgt zumindest äußerlich der Chronologie des Exils.

Innerhalb dieses Erzählgerüsts freilich vollzieht sich eine Verlangsamung, mithin Verräumlichung der Zeit, die in detailfreudigen und zugleich assoziationsreichen Beschreibungen von Handlungssequenzen, Landschaften und Gegenständen zu statischen Bildern gerinnt. Fotografie ist dem Text regelrecht eingeschrieben: ‚Kurzer Umblick. Blick streift über Hügelrücken, schweift hinüber nach Formenteras Rand, Abschluß des Wasserbeckens. Der Mühlturm steht auf gemauertem Rund, er selbst: eine Steinkerze, erlöscht, da man ihr die luftwirbelnden Flügel nahm. Langsam zieht Gal sein Stativ auseinander, baut es auf, nimmt den Apparat aus der Tasche, schraubt ihn auf, stellt ein, sieht durch die Mattscheibe. Auf ihr ergraut die Welt, totgraues Schattenbild in Unterweltfarben erblickt sich, spiegelt sich in Gals Auge. Ruht trauervoll. Entsinkt sich selbst. Photographie, das ist Lichtschrift.‘

Am Schluß hebt sich der Roman, der keiner sein will und in traditionellem Sinn auch keiner ist, in Rückbindung an den Untertitel, Traumsein in Spanien, gewissermaßen selbst auf: ‚Ibiza ist: Nichts. Nichts mehr. Nur Traum.‘ Diese durch Schauplatz und Handlungselemente gestützte Kreisstruktur reflektiert die Geschichtserfahrung einer doppelten Emigration und Flucht, zunächst vor den deutschen Nazis, dann vor der Guardia civil Francos.

In Summe lässt sich Hyle weder als ‚Dadaroman‘ vereinnahmen noch als realistisches Lebenszeugnis auffassen, der Roman ist vielmehr ein ‚Traumbuch‘, ein ‚autobiographischer Mythos‘, wie Hausmann sein Werk selbst empfand.

Adelheid Koch-Didier ist eine ausgewiesene Raoul Hausmann-Forscherin. Mehrere Publikationen zu Dada und Raoul Hausmann.