Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Faksimile-Edition

Reprint der Erstausgabe, Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1919

von

Kafkas letzte Geliebte
Graphische Spuren von Ja und Nein:

Dora Dymants Widmung

Handschriftliche Widmungen in Büchern versuchen das
Unmögliche: Dem Typischen, Allgemeinen des Drucks das
Individuelle wiederzugeben, das in ihm, durch Typographie,
getilgt scheint. Im Falle des vorliegenden Kafka-Drucks,
der 1996 von einem Hamburger Antiquariat in Privatbesitz
überging, handelt es sich um ein einzigartiges Zeugnis der
Verbundenheit mit dessen Autor, auch über die letzte Grenze
hinaus. Kafka war zum Zeitpunkt des handschriftlichen
Eintrags bereits vier Jahre tot.

Wir wissen nicht, wer jene Mine Meyer war, der Dora Dymant
(1898-1952) 1928 Kafkas wohl berühmteste Erzählsammlung
‚Ein Landarzt‘ ‚zur Erinnerung an einen schönen Tag im
Bergischen‘ zudachte. Auch über Dora Dymant selbst wissen
wir nicht allzuviel. In Kafka-Biographien steht sie in der
chronologischen Folge der Kafka-Geliebten an dritter
Stelle, nach Felice Bauer und Milena Jesenská. Kafka, der
sie 1923 bei einem Erholungsurlaub im Ostseebad Müritz (bei
Stettin) kennenlernte, fühlte sich von der damals
Neunzehnjährigen sogleich angezogen. Sie arbeitete dort
freiwillig im Ferienlager eines jüdischen Berliner
Volksheims. Die Berliner Kolonie befand sich direkt neben
Kafkas Pension, und die erste Begegnung fand am 13. Juli
1923 statt – anläßlich einer Feier am Vorabend des Sabbats,
an dem Kafka auf eigenen Wunsch teilnahm.

Das Band, das ihn fortan an diese Frau fesselte, muß so
stark gewesen sein, daß es ihm mit ihrer Hilfe erstmals
gelang, der Schwerkraft Prags zu entkommen. Vom September
1923 bis März 1924 lebten Dora Dymant und Kafka zusammen in
Berlin, zunächst in einer Wohnung in der Miquelstraße 8
(Steglitz), dann, ab Mitte November, in der Grunewaldstraße
13 (Steglitz) und schließlich Februar/März in der
Heidestraße 25/26 (Zehlendorf). Die finanziellen
Verhältnisse waren schwierig, es war die Hochzeit der
großen Inflation. Kafka, schon vom Tod gezeichnet, wog
wenig mehr als 50 Kilogramm.

Die letzten Monate Kafkas mit ihrer Odyssee von
Sanatoriumsaufenthalten war Dora Dymant immer in Kafkas
Nähe und sorgte ohne Rücksicht auf ihr eigenes Wohlergehen
für ihn. Kafka schmiedete Hochzeitspläne. Max Brod
überliefert in seiner Kafka-Biographie die ‚merkwürdige
Geschichte [von Kafkas] Werbung. Er wollte Dora heiraten,
hatte an ihren frommen Vater einen Brief abgeschickt, in
dem er darlegte, daß er zwar in des Vaters Sinn kein
gläubiger Jude, aber ein ›Bereuender‹, ein ›Umkehrender‹
sei und daher vielleicht doch hoffen dürfe, in die Familie
des frommen Mannes aufgenommen zu werden. Der Vater war mit
dem Brief zu dem Menschen gereist, den er am meisten
verehrte, dessen Autorität ihm über alles ging, zum ›Gerer
Rebbe‹. Dieser Rabbi las den Brief, legte ihn weg und sagte
nichts als ein kurzes ›Nein‹. Ohne nähere Erklärung. Er
pflegte nie Erklärungen zu geben. – Dieses ›Nein‹ des
Wunderrabbi hat durch Franzens bald darauf erfolgten Tod
seine Bestätigung erhalten; Franz faßte auch den Brief des
Vaters […] als schlechtes Vorzeichen auf.‘ Als Kafka am 3.
Juni 1924 in Kierling bei Klosterneuburg starb, war Dora
Dymant zugegen.

Die Widmung im ‚Landarzt‘-Band weist das Verbot des Vaters
zurück und hält dem Geliebten auch vier Jahre nach dessen
Tod die Treue. Man sieht, Weiß nach Schwarz, wie Dora
Dymant nach dem Bindestrich zögert. Es entsteht in der
Schreibbewegung der Hand – markierte Erinnerung an das
Verdikt des Patriarchen – eine Lücke. Doch dann setzt die
Schreiberin fort und schreibt den Namen Kafkas, gebunden an
den ihren. Ein Bekenntnis. Das Faksimile, das der Edition
der ersten beiden Oxforder Oktavhefte beiliegt, tilgt die
individuelle Intervention nicht. Es hebt sie auf und führt
sie im Medium des Buchs, paradox, der Allgemeinheit zu.

Roland Reuß