Goethes Geistgestalt

Essays

von

„Albert Steffen ist ein Meister des Essays. Immer gelingt es ihm einen Gedanken von seinem Mittelpunkt her in fast mathematischer Prägnanz so weit zu entwickeln, bis er den Leser an dem Punkte, wo der Kreis sich scheinbar schließen will, plötzlich in die Freiheit entläßt, selber weiter den Weg des Denkens zu gehen. Und wieder aus einem ganz anderen Ansatz zieht der Meister des künstlerischen Denkens einen neuen Bogen, in ein anderes Geisterleben schwingen die Wellen seines Dichtertums, das tief und klar ist wie ein Bergsee. Es muß selbst für den packend sein, der prinzipiell anders geistig orientiert ist, in solcher Spiegelung zentrale Probleme geistiger Existenz sich darstellen zu sehen: in diesem Menschtum, diesem Denken und dieser Sprache. Alle Mühsal scheint hinter dem Gestalten zurückgelassen, in Leichtigkeit und spielerischer Freude am schöpferischen Wort und gedanklichen Tun werden hier Unsagbarkeiten sagbar und – zum mindesten diesem Menschen – glaubhaft. Es ist ein zauberhaftes Spiel, diesen ernstesten Dichter der Gegenwart derart in fast tänzerischer Anmut sich in den Abgründigkeiten absoluter Problematik bewegen zu sehen.
Ist das hier Gesagte gültig für Steffen als Essaydichter überhaupt, so ganz besonders für den vorliegenden Band, an dem es sich uns zu besonderer Deutlichkeit darstellt. Darüber hinaus über den Gehalt der einzelnen Stücke etwas zu sagen, ist fast unmöglich – das Gesagte ist schon so knapp als nur angängig und seiner Form so gewiß, daß es kritische Umformung in wenige Andeutungen nicht verträgt. Ich sagte: auch wer von ganz anderer Seite an die Probleme herangeht und zu Resultaten kommt, die denen Steffens widersprechen, wird für sich einen großen Gewinn haben, wenn er sich unvoreingenommen genug diesem Buch nähert. Er wird aber in diesem Falle – noch sind wir im Goethejahr, noch klingen in uns all die billigen Zitate zur Selbstbespiegelung – auch noch Goethe begegnen: ‚Wenn ich selber Goethe zitiere, so frage ich mich immer, wie er wohl heute urteilen würde, wenn er noch lebte.‘ Und in diesem Doppelerlebnis, zu dem sich zumindest ein Ahnen von der Größe Rudolf Steiners gesellen wird, dem ein Geist wie Steffen so tief verpflichtet ist, wird sich ein Ausblick in Geschichte und Welt auftun, der in seiner Wahrhaftigkeit und Freizügigkeit zum mindesten von der Möglichkeit überzeugt, daß ein in jeder Hinsicht bedeutender und wahrer Mann nicht nur Goethe, sondern seine geistige Gestalt in der Welt wahrhaft groß und total anders sehen kann, als man es gewohnt ist. Über die eigenartige und großzügige Architektur des ganzen Werkes zu sprechen, wäre besonders reizvoll, ist hier aber nicht gut möglich.“ („National- Zeitung“, Basel, 18. Dezember 1932, Morgenblatt).