Wenn Poesie läutet, kann ich mich öffnen
Leider läutet die Poesie der zeitgenössischen, vornehmlich jungen Poeten wenig. Immer weniger, möchte ich behaupten und behalte mir meinen Irrtum vorab entschuldigend vor. Ich möchte keinem, schon gar keinem jungen Dichter (gemeint sind gleichsam immer auch die Dichterinnen) Unrecht tun. Als Literaturkenner bin ich schnell enttäuscht, wenn mein Glaube gänzlich unerfüllt bleibt. So glaube ich an das Genie im Dichter, das uns wie ein Blitzstrahl blendet und sehend macht. Ich glaube an die unüberwindbare Kraft des Wortes, das die Welt erschüttern kann. Ich glaube an die poetische Zeile, die mich selbst neu erschuf. Ich glaube an die Poesie als probates Mittel, das irdische Dasein zu überleben. Ein Rilke vermag mir allemal ein Blitzen ins Auge zu legen. Jandl erinnert mich an die Stürme des Aufbegehrens und an die atemlose Bewunderung für sein ans Absolute grenzendes Werk.
Als ich die ersten Texte von Ingrid Gorr in die Hände und zu Gesicht bekam, hörte ich das Läuten wieder. Sie ist eine Dichterin auf dem Weg, die schon erstaunliche Meilensteine gesetzt hat. Wohin wird sie ihr Weg führen? Eines habe ich in ihren Werken schauen können: ein gefestigtes Weltbild. Da ist Sinnlichkeit und das Bekenntnis zum eigenen Geschlecht, zum Weiblichen. Da ist ein unbestechlicher, fast nüchterner Blick auf die Realitäten und die Fähigkeit der adäquaten poetischen Sprachfindung. Das Kritikvermögen der Dichterin macht die Texte eckig und kantig. Am Grat der Schnittstellen besteht akute Verletzungsgefahr. Und nirgendwo finde ich Larmoyanz.
Ich gestehe, die Lektüre der poetischen Arbeiten von Ingrid Gorr hat auf mich dieselbe Wirkung wie kühles prickelndes Quellwasser für einen Dürstenden. Als ich sie näher kennen lernte, verstand ich ihr Schaffen besser. Sie ist eine Gärtnerin, liebt das Lebendige und ist so imstande, um es mit Hölderlin zu sagen, das Tiefste zu denken. Sie ist Fotografin, bevorzugt die Makrofotografie. Wer kann sich ein geschulteres Auge denken für das Wesenhafte der Dinge? Ingrid Gorr steht in Kontakt mit den Dichtern der Vorzeit, lässt sich von ihnen beraten und inspirieren und erlangt so einen Ausgangspunkt für ihre Arbeit, der erwartungsvoll macht. Ich bin dankbar für die Begegnung mit ihr.
Frank Sporkmann, München
- Veröffentlicht am Donnerstag 21. November 2024 von Aphaia Verlag
- ISBN: 9783926677488
- 64 Seiten
- Genre: Belletristik, Lyrik