Kampf um Sinn

Theodizee in Kleists Erzählungen

von

Zusammenfassung und weiterführende Analyse
In Das Erdbeben in Chili, Die Marquise von O…, Michael Kohlhaas, Das Bettelweib von Locarno und Die Verlobung in St. Domingo ist der Bezug zu ihrer Entstehungszeit, der Gegenwartsbezug, mehr oder minder deutlich vorhanden. Aber auch bei den anderen drei Erzählungen – Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik, Der Zweikampf und Der Findling – kann man diesen voraussetzen, da es in der damaligen Zeit ein historisches Bewußtsein, das im Historischen nur das Historische und nicht vor allem die eigene Gegenwart sah, noch nicht im heutigen Maße gab. Das in Kleists Erzählungen Gesagte soll also als für die Gegenwart relevant und gültig erachtet werden.1 Es besteht bei sechs der acht Erzählungen, wie ich oben gezeigt habe, nicht zuletzt in der Aussage, daß eine Theodizee in der dargestellten Welt existiert; hinzufügen kann man zudem Die Verlobung in St. Domingo, in der die Existenz einer Theodizee in der dargestellten Welt als selbstverständlicher Hintergrund zum Geschehen im Vordergrund gesehen wird. In Der Findling hingegen wird die Existenz einer Theodizee verneint.
In Abschnitt 1.2 habe ich aufgezeigt, daß die Sekundärtexte bis in die 1960er Jahre hinein fast ausschließlich die Frage nach der teleologischen Organisation der dargestellten Welt in Kleists Erzählungen als Ganzes bejaht haben, während nach der Übergangsphase der 1970er Jahre ab den 1980er Jahren die Sekundärtexte dominant diese Frage verneinen. Meine Analyse der Erzählungen hat gezeigt, daß – wenn man sich auf diese Frage beschränkt und Der Findling außen vor läßt – die früheren Sekundärtexte recht hatten. Aber ein grundlegender Fehler dieser Sekundärtexte bestand darin, daß sie die Frage der teleologischen Organisation der dargestellten Welt in Kleists Erzählungen – statt hinsichtlich der Theodizee – im Rahmen des Schicksals- Gedankens oder vor allem christlicher Vorstellung betrachteten.
Es muß an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, daß es in den Erzählungen nicht darum geht, eine bestimmte Theodizee zu propagieren. In den Erzählungen werden vier verschiedene Theodizee-Konzepte vorgeführt: das der Geschichtsphilosophie in Das Erdbeben in Chili, ein spezifisches, rein diesseitsimmanentes in Die Marquise von O…; ein weiteres spezifisches, durch das Eingreifen des Jenseits gerettetes in Michael Kohlhaas, Das Bettelweib von Locarno, Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik und Der Zweikampf sowie in Die Verlobung in St. Domingo das dominante der Literatur der Sattelzeit. Dies zeigt, daß – mag auch jede einzelne dieser Erzählungen ein bestimmtes Theodizee-Konzept propagieren – es in erster Linie in diesen Erzählungen um den Nachweis geht, daß überhaupt eine Theodizee existiert, in welcher Form auch immer.
Wenn man die ursprüngliche Theodizee mit ihrer reinen Diesseitsimmanenz sowie mit ihrer Bezogenheit auf das Jetzt und auf jede einzelne Person als Maßstab nimmt, so erscheinen die in den Erzählungen von Kleist vorkommenden Theodizee-Konzepte als gegenüber der ursprünglichen Theodizee abgeschwächte: Die Geschichtsphilosophie in Das Erdbeben in Chili sieht das Ziel, von dem aus sich alles im nachhinein teleologisch als sinnvoll erweist und legitimiert, erst in ferner Zukunft, wobei der einzelne Mensch der Gegenwart dieses Ziel nie erreichen wird; nur als Teil der Menschheit kann der einzelne Mensch an ihm teilhaben. Das spezifische, rein diesseitsimmanente Theodizee-Konzept in Die Marquise von O… ist zwar auch wie die ursprüngliche Theodizee bezogen auf das Jetzt, doch nur hinsichtlich einer bestimmten Personengruppe; für alle anderen liegt das Ziel, von dem aus sich alles teleologisch erklärt, ähnlich wie bei der Geschichtsphilosophie in der Zukunft. Das spezifische, diesseitsimmanente Theodizee-Konzept in Michael Kohlhaas, Das Bettelweib von Locarno, Die heilige Cäcilie oder Die Gewalt der Musik und Der Zweikampf ist zwar bezogen auf jeden einzelnen Menschen und – wenn auch in einem gegenüber der ursprünglichen Theodizee leicht abgeschwächten Maße – auf das Jetzt; es muß jedoch durch das Jenseits gerettet werden. Dabei ist es in Der Zweikampf in einem deutlich größeren Maße als in den anderen genannten Erzählungen nötig, daß das Jenseits eingreift. Das dominante Theodizee-Konzept der Literatur der Sattelzeit, das sich in Die Verlobung in St. Domingo findet, ist, wie zum Beispiel ein Blick auf Wilhelm Meister zeigt, hinsichtlich des Jetzt abgeschwächt, da das teleologische Ziel unter Umständen erst nach vielen Jahren erreicht wird, auch wenn dies in Die Verlobung in St. Domingo selbst nicht der Fall ist. In Der Findling wird dann sogar die Existenz einer Theodizee verneint.
In den Erzählungen von Kleist läßt sich eine gewisse chronologische Entwicklung feststellen: Während die Erzählungen bis einschließlich Die Verlobung in St. Domingo die Existenz einer Theodizee jede für sich uneingeschränkt bejahen, wird in Kleists letzten beiden Erzählungen – Der Zweikampf und Der Findling -, die nach allem, was wir wissen, ungefähr zur gleichen Zeit entstanden, einmal diese verneint und einmal – wenn auch nur im Rahmen einer Ambivalenz und nur an einer Textstelle – bis zu einem gewissen Grad in Frage gestellt. Hinzu kommt, daß in den Erzählungen ab Michael Kohlhaas bis Der Zweikampf das Eingreifen des Jenseits in einem zunehmend größeren Maße notwendig wird, um die diesseitsimmanente Theodizee zu retten. In Michael Kohlhaas ist das Eingreifen des Jenseits nur in einem bestimmten Bereich, in Das Bettelweib von Locarno und Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik, da nicht mehr auf einen Bereich begrenzt, in einem schon größeren Maße, in Der Zweikampf schließlich in einem sehr großen Maße vonnöten.
In Kapitel II habe ich bereits mehrmals von der Kontrolle der Gewalt – Gewalt verstanden im weitesten und allgemeinsten Sinne – als ein durch die Theodizee zu lösendes Problem in den Erzählungen von Kleist gesprochen. Während ab Das Bettelweib von Locarno die Kontrolle der Gewalt deutlich das zentrale zu lösendes Problem in den Erzählungen von Kleist darstellt, ist dies in den früheren Erzählungen noch nicht der Fall, wenngleich es auch in diesen stets von Relevanz ist. In Michael Kohlhaas ist es in Form der Kontrolle der Herrschenden nur eines neben anderen
Problemen. Vor allem ist hier das Problem des gerechten Verbrechers zu nennen. In diesem geht es allerdings auch um die Kontrolle von Gewalt; um die der zugleich illegitim/legitimen Gewalt des gerechten Verbrechers Michael Kohlhaas. In Die Marquise von O… wird zwar auch letztlich ein Gewaltakt – die Vergewaltigung der Marquise durch den Grafen – durch die Theodizee aufgefangen, aber mindestens ebenso wichtig, wenn nicht weit wichtiger sind die verschiedenen Transformationen, die eine einstmals patriarchaische Familie in eine Familie gleichberechtigter Mitglieder verwandeln. In Das Erdbeben in Chili schließlich werden zwar auch die Gewalt der Natur und die Gewalt der Menschen durch den Nachweis, daß es den Idealzustand in ferner Zukunft geben wird, aufgefangen, aber dieser Nachweis selbst steht eindeutig im Vordergrund der Erzählung.
Von vielen Sekundärtexten wird festgestellt, daß sich Gewalt – Gewalt nun im eigentlichen, engen Sinne – in großem Maße in den Erzählungen von Kleist findet. So spricht Ruth K. Angress 1977 von „terrorism and desperate causes.“2 Helmut Arntzen 1983 meint, die Welt, die in Kleists Werken dargestellt wird, „ist die Welt sprachloser, menschenfeindlicher Gewalt“.3 Gerhard Gönner 1989 schreibt: „Die meisten der Kleistschen Werke können beispielhaft für eine Literatur der Gewalt einstehen.“4 Iris Denneler 1995 schließlich sagt: „Kleists Werk handelt […] unübersehbar von Gewalt.“5 Herbert Senk 1930, Ludwig Büttner 1968, Nigel Reeves 1990 und
Ruth Klüger 1997 sind neben anderen ähnlicher Meinung.6
Ein anderes Merkmal, das oft in den Sekundärtexten genannt wird – zudem nicht selten in Verbindung mit dem der Gewalt -, ist das der Paradoxie oder Rätselhaftigkeit der dargestellten Welt oder der Geschehnisse in dieser. So schreibt Ernst Cassirer 1919: „Den Kleist’schen Helden war […] der eine Zug gemeinsam: daß sie sich der Welt als einem durch und durch Rätselvollen und Irrationalen gegenüber fanden.“7 1990 spricht Klaus Müller-Salget von einer „Exponierung ungelöster und unauflösbarer Widersprüche“8; und 1973 schreibt er, daß „Doppeldeutiges, Parodoxes, Widerspruch Kleists Werk“ durchzieht9. Hans H. Hiebel 1988 spricht ähnlich von einer „Fixierung auf Doppeldeutigkeiten, Antinomien und Paradoxien.“10 Hinrich C. Seeba 1988 bezeichnet Kleist dann auch als den „Dichter der Paradoxien“.11 Ähnliches meinen zum Beispiel Irmela Fitschen 1973, Jürgen Stenzel 1981/82 und Kevin Hilliard 199112.
Ein drittes häufig genanntes Merkmal der Erzählungen ist der – wenn man so will – Zufall oder – wie Gerhard Gönner 1989 es ausdrückt – die „Umschlägigkeit“13, mit der die Geschehnisse sich in ihr Gegenteil wandeln. Dieses Merkmal wurde schon oft in den vorherigen Kapiteln in den Zitaten aus den Sekundärtexten genannt, so daß es nicht notwendig ist, hier weitere Belege anzuführen.
Man wird in der Aufklärungsliteratur vergeblich nach Texten suchen, die auch nur annähernd derart extrem wie die Erzählungen von Kleist Gewalt, Paradoxie und Rätselhaftigkeit sowie Umschlägigkeit in ihren dargestellten Welten häufen. In diesem Sinne sprengt diese Eigenart der Erzählungen von Kleist jeden Rahmen traditioneller Literatur.
Sieht man von Der Findling und Die Verlobung in St. Domingo ab, so ging es in allen Erzählungen nicht zuletzt um den Nachweis der Existenz einer Theodizee in der dargestellten
Welt. Welche Funktion kann dabei die jeden traditionellen Rahmen sprengende Betonung von Gewalt, Paradoxie und Rätselhaftigkeit sowie Umschlägigkeit haben? Meine – in Kapitel II schon angedeutete – These ist, daß die Leistung der Theodizee umso größer zu bewerten ist, je größer die Gewalt, die Paradoxien und Verwirrungen – Eberhard Lämmert 1980 spricht von der
„schlimmstmöglichen Verunsicherung“ in Kleists Erzählungen14 – sowie die Umschlägigkeit ist.
Selbst die schlimmsten, verwirrendsten und wechselhaftesten Geschehnisse im Rahmen „der gebrechlichen Einrichtung der Welt“15 vermag eine Theodizee aufzufangen. Nicht um die Existenz einer Theodizee in der dargestellten Welt in Frage zu stellen – wie dies meist in den neueren Sekundärtexten vermutet wird -, sondern um Vertrauen in die Theodizee zu wecken, werden Gewalt, Paradoxie und Umschlägigkeit in diesem ungewöhnlichen Maße in den Erzählungen von Kleist dargestellt. Man könnte hier geradezu von einer Art ‚Werbung’ für die Theodizee in den Erzählungen von Kleist – mit Ausnahme von Der Findling – sprechen. Auch die damit zusammenhängende und von den Zeitgenossen positiv bewertete Realitätsnähe der Erzählungen (siehe Abschnitt 2.2) dürfte als ‚Werbung’ für die Theodizee zu verstehen sein. Letztlich wird behauptet, daß nicht nur in der erzählerischen Fiktion, sondern auch in der Realität die Theodizee alles Übel aufzufangen vermag.
Berücksichtigt man diese Werbung für die Theodizee in den Erzählungen und erinnert man sich daran, daß in den Erzählungen – sieht man von Der Findling ab -, um die Existenz einer Theodizee nachzuweisen, nicht nur das genuin literarische dominante Theodizee-Konzept der Literatur der Sattelzeit verwendet, sondern auch ein philosophisches – die Geschichtsphilosophie – in die Literatur übertragen wird und vor allem auch noch zwei weitere eigenständige entwickelt werden, so kann man wohl sagen, daß in diesen Erzählungen um die Sinnhaftigkeit der Realität mit – man möchte sagen – allen, nicht zuletzt drastischen Mitteln gekämpft wird.16 Es ist daher bezeichnend, daß in Der Findling die Theodizee mit einem gewissen Bedauern in Frage gestellt wird, und so kann man wohl von einem Kampf um Sinn in den Erzählungen von Kleist sprechen. Ein solcher Kampf um Sinn dürfte in der Literatur der Sattelzeit recht selten sein. Er beweist, daß Kleists Erzählungen in der Tat nicht in eine der verschiedenen Richtungen der Literatur der Sattelzeit – wie Romantik und Klassik – einzuordnen sind. (Siehe Abschnitt 1.1.) Dabei bleiben sie aber – auch dieses dürfte in Kapitel II deutlich geworden sein – sowohl im Rahmen des Denkens als auch im Rahmen der Literatur der Sattelzeit, die sich nicht zuletzt mit diesem Denken intensiv auseinandersetzt: In den Erzählungen findet sich nicht zuletzt eine eigenständige Auseinandersetzung mit dem Theodizee-Gedanken des Aufklärungsdenkens. Diese Auseinandersetzung ist dabei durchaus bezeichnend für die Sattelzeit. Denn einerseits ist sie in dem, was sie (meist) nachzuweisen sucht – die Existenz einer Theodizee -, dem Traditionellen, andererseits in den Mitteln, die sie dafür verwendet, dem Modernen zugewandt. So findet sich auch in Kleists Erzählungen das, was die Sattelzeit unter anderem kennzeichnet: das Charakteristikum der partiellen Modernisierung.