Wittgensteins Wahrheitsverständnis

Zugleich Entwurf einer Grammatik von "wahr" und "Wahrheit" auf der Grundlage der Spätphilosophie Wittgensteins

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Es gilt verbreitet als ein Markenzeichen des frühen wie des späten Wittgenstein, dass seine Philosophie auf einen eigenständigen Erkenntnis- und Wahrheitsanspruch verzichtet. Gegen dieses Wittgensteinbild wendet sich dieses Buch in erster Linie. Seine Grundthese lautet, dass Wittgenstein in den verschiedenen Phasen seines Schaffens einen vom Konzept der Aussagenwahrheit verschiedenen Begriff philosophischer Wahrheit verwendet und für seine eigene Philosophie in Anspruch nimmt.

Im Tractatus bestimmt Wittgenstein Wahrheit von Aussagesätzen als Korrespondenz von Satz und behauptetem Sachverhalt. Zugleich aber hebt er die ‚Wahrheit‘ der Gedanken des Tractatus selbst hervor. Diese philosophische Wahrheit ist nicht Sache einzelner Sätze, sondern erweist sich als Prädikat eines auf apriorischen Prämissen ruhenden, vollständig logisch deduzierten Systems, dessen Konklusionen Einsichten in das Wesen der Welt zum Ausdruck bringen.

Wittgensteins Spätphilosophie liefert nicht nur eine grundlegende Kritik von Korrespondenztheorien der Wahrheit, sie selbst entzieht sich allen wahrheitstheoretischen Zuschreibungen, die sie im Lauf ihrer Rezeption erfahren hat. Stattdessen finden sich in ihr Hinweise auf spezifische Verwendungsregeln für die Ausdrücke ‚wahr‘ und ‚Wahrheit‘, die hier als Anknüpfungspunkte einer Grammatik von ‚wahr‘ und ‚Wahrheit‘ dienen. Grammatische Wahrheit,die korrekte Beschreibung sprachlicher Praxis, erschöpft philosophische Wahrheit jedoch keineswegs. Was Wittgenstein das ‚Ruhen in der Wahrheit‘ nennt, ist eine noch grundlegendere Form der Wahrheit, die im Gegensatz zu der grammatischer Sätze überhaupt keine Form der Aussagenwahrheit darstellt. Philosophische Wahrheit ist die einer Betrachtungsweise unserer Sprache, aus der heraus erst ein adäquates Verständnis grammatischer Wahrheit möglich wird. Da Wittgenstein diese neue Betrachtungsweise nicht nur auf Sprache, sondern auch auf das Dasein selbst angewendet wissen will, wird erst hier das ethische Potential seiner Spätphilosophie deutlich.

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