Vorabend

von

Im Jahr 1982 in Frankfurt-Eschersheim ein langes Wochenende
im Herbst. Der Erzähler ist mit Frau und
Kind bei Freunden zu Besuch. Vielleicht das letzte Wochenende,
bevor die Freunde nach Südfrankreich ziehen.
Der Erzähler ist müde. Will schlafen. Um ihn her
der Nachmittag und die vertrauten Stimmen und dazu
die Stimmen in seinem Kopf. Und dann muß er erzählen!
Eine lange Reise. Und wir begleiten ihn in das Land
seiner Kindheit. Das Oberhessen aus der Zeit nach dem
Krieg und bis in die Siebziger Jahre. Gestern noch hier
und jetzt ein versunkenes Land.
Man muß die ganze Gegend erzählen, die Zeit! Und
dazu die Menschen. Kleinbauern, Handwerker und
Gießereiarbeiter. Die Oberdorfwitwen, die alten Leute
und ihre Geschichten. Und die Kinder, als wir alle noch
Kinder waren. Die alten Kaufläden. Flohmarkt- und
Flüchtlingsgeschichten. Wie es bei der Arbeit zugeht.
Lebensläufe, Vergangenheiten, die Zeit. Was die Zeit
mit uns macht. Das Fernsehen. Die Liebe. Drei Paargeschichten.
Wie man mitten im Pferdefuhrwerk- und
Dampflokzeitalter als Sechsjähriger in Lollar am Güterbahnhof
bei der amt lichen Waage steht (neben einer
großen Pfütze) und weiß vom Hörensagen, die Erde
ist eine Kugel. Ein langer Herbstnachmittag und er ist
sechs und muß sich alle Stimmen und Farben und jede
Einzelheit merken. Hier will er ein Dichter und groß
werden! Wenn man auf einem Berg wohnt, führt jeder
Heimweg am Ende bergauf.
Die Nachkriegs-, die Not-, die Hunger-, die Hamster-,
die Schwarzmarkt- und dann die neue und immer noch
eine neuere neue Zeit. Der Fortschritt. Und fängt dann
zu fahren an. Baustellen, der Straßenbau, Autobahnen,
Schnellstraßen und Autobahnzubringer. Staatssekretäre,
Ehrenjungfrauen und das Weltbild der Igel. Eine
vergessene alte Landstraße, die leer in der Sonne liegt.
Supermärkte, Einkaufsfahrten, Räubergeschichten, ein
gelungener Amoklauf und die langen Sommer der späten
Sechziger Jahre. Ein ganzes Zeitalter und jeder Augenblick
fängt zu reden an.
‚Schon mein ganzes Leben lang wollte ich dieses Buch
schreiben.‘ (Peter Kurzeck)
Seit Mitte der neunziger Jahre arbeitet Peter Kurzeck an
dem großen autobiographisch-poetischen Projekt Das
alte Jahrhundert. Die ersten vier Bände sind bereits erschienen:

Übers Eis (1997)
Als Gast (2003)
Ein Kirschkern im März (2004)
Oktober und wer wir selbst sind (2007).
‚Über das Autobiographische hinaus entsteht eine faszinierende
Zeitgeschichte.‘ (Norbert Wehr im WDR)
‚…vielleicht werden es ja noch mehr, die einen der
größten zeitgenössischen deutschen Schriftsteller für
sich entdecken.‘
(Bettina Schulte in der Badischen Zeitung)
Vorabend wurde im Sommer 2010 von Peter Kurzeck im
Literaturhaus Frankfurt öffentlicht diktiert.