Герман Гессе Cтихотворения / Hermann Hesse Gedichte

Станислав Овруцкий Переводы и Парафразы / Stanislav Ovrutskiy Übersetzungen und Nachdichtungen

Vorwort

Warum greift man heute zu Hermann Hesses Gedichten? Die wohl beste Antwort auf diese Frage geben seine eigenen Worte, gewidmet dem deutschen Romantiker und Dichter Novalis, der hundert Jahre vor Hesse gelebt hat: »… dieser wahre Seher und Seelenleser, hat zu seiner Zeit das Ideal deutscher Geistesbildung für hundert Jahre weiter hinausgeträumt … In ihm hören wir die Stimme jenes sagenhaft gewordenen Deutschland des Geistes und der Andacht, das heute von vielen geleugnet wird, weil es nicht mehr die Oberfläche des deutschen Lebens beherrscht.« (Hermann Hesse, Novalis, 1919).

Hermann Hesses gesammelte Werke im Suhrkamp- Verlag umfassen 20 Bände, von denen Band 10 (625 Seiten) sein gesamtes poetisches Erbe enthält.
Die Gedichte, die in dieser Sammlung in Übersetzungen und Nachdichtungen vorgelegt werden (einige in freien Versen ver-fasste Gedichte sind im Russischen in metrische Reime gebracht), stammen aus allen Lebensphasen Hesses, vom Ende des 19. Jahr-hunderts bis zu seinem letzten Tag 1962.

Dank des aufrichtigen Interesses von Freunden an dem Projekt und ihrer unterstützenden Teilnahme hatte ich Gelegenheit, die frühesten Ausgaben von Hesses Gedichten in die Hand zu nehmen, die noch zu seinen Lebzeiten erschienen – bereits ab Anfang des letzten Jahrhunderts. So konnte ich mich in die »Entschlüsselung« der alten deutschen Druckschrift des 19. und 20. Jahrhunderts vertiefen oder die Rauheit vergilbter Seiten einer kleinen, abgenutzten Privatausgabe aus dem Jahre 1939 spüren.

Liebesromantik, Enttäuschungen, Depressionen, Selbstironie und Ironie, Verzweiflung und Hoffnung spiegeln sich in kurzen, einfachen und aufrichtigen Zeilen wider. Zwei Weltkriege, Seelen-schmerz und Weltschmerz, das Verzweifeln an Gott und die Suche nach Gott, das Altwerden und die Weisheit des Alters, der Tod eines Menschen und die Ewigkeit des Lebens – diese Jedem bekannten Geheimnisse und Offenbarungen werden durch die spezifischen Verfahren einer anderen Sprache (der russischen) in die moderne Zeit übertragen.

Das wichtigste Anliegen war dabei jedoch, die Stimmung und den Geist des Originals zu bewahren. Nur der Leser wird entscheiden können, inwieweit dies gelungen ist – und ob in einem Zeitalter, in dem Person und Geist in der Gewalt der Multimedialität sind, überhaupt Bedarf an Poesie besteht. Es ist nicht immer möglich, die kurzen Zeilen sinngerecht zu übertragen, ohne etwas an den Wörtern oder der Abfolge zu ändern. Doch je präziser es gelingt, die Zeit und Distanz zu überwinden, um dem Leser Geist, Rhythmus und Struktur der poetischen Wendung zu vermitteln, desto spannender wird das Spiel und desto größer ist die Zufriedenheit.

Ohne die Unterstützung enger Freunde und die Beteiligung professioneller Philologen und Künstler wäre die Verwirklichung dieses Projekts nicht möglich gewesen. Die Übersetzung dieser hundert Gedichte nahm etwa ein Jahr in Anspruch, gefolgt von monatelangen Redaktions- und Korrekturarbeiten zusammen mit zweisprachigen deutschen und russischen Philologen. Die ausgesuchten Illustrationen und das Layout wurden eigens für die Veröffentlichung durch hervorragende Künstler und Gestalter erstellt.

Die Arbeit an neuen Übersetzungen wird fortgesetzt.

Stanislav Ovrutskiy