100 things stolen by my father – Joëlle Lehmann
100 schwarze Vierecke zeigen mehr als 100 Gegenstände, wenn das Leben ein Sammelsurium an Handlungen ist, eingefangen in beliebigen Objekten. Durch solche kontraintuitiven Ansätze weicht Joëlle Lehmann Trennlinien zwischen Leben und Kunst auf. Ihr Zugang ist ein persönlicher: 100 Dinge, die der Vater gestohlen hat – aufgefunden und festgehalten von der Tochter.
In der vorliegenden Publikation wird das Bezeichnende getrennt vom Bezeichneten dargestellt. Whirlpool, Kürbis oder Wintersalz sind im Atelier der Künstlerin eingelagert und fotografisch dokumentiert – hier werden nur die Zeichenkörper vorgeführt. Als Platzhalter für die Fotografien fungieren schwarze Vierecke. Doch selbst in den sprachlichen Verweisen lassen sich Vorlieben und Haltungen des Vaters erahnen, die im Zusammenspiel der Objekte augenscheinlich werden. Indes ist dieser Dialog nicht auf bestimmte Gegenspieler angewiesen, sondern findet in der Vielfalt und Beliebigkeit der Objekte statt. Ein Fenster oder eine Packung Risotto geben nicht viel über den vermeintlichen Besitzer preis, was interessiert, sind Gegenstücke wie Farbkübel und Christbaum oder Schildkröte und Treppe. Denn der Mensch kann nicht im Objekt gefasst werden, hingegen lassen sich aus dem Prozess der Auswahl und Aneignung individuelle und soziale Mechanismen ableiten. Aus beiläufigen Gedanken oder angestrengter Planung werden Objekte herausgeschält, die den Beutezug widerspiegeln – die Gegenstände selbst sind austauschbar. Diesbezüglich lässt sich das Stehlen mit dem Akt des Fotografierens vergleichen. Auch das Stehlen führt zur Trophäe eines Augenblicks oder einer Überzeugung.
Es sind solche Analogien, in denen Lehmann Kunst mit dem Leben gleichsetzt und den Vater zum Künstler erhebt. Die Tochter versucht, sich das unkonventionelle Verhalten des Vaters zu erklären und findet seine Handlungen in der Kunst wieder. Das Stehlen ist nicht die einzige Befragungs- und Reaktionsstrategie, die an Aktionskunst erinnert. Immer wieder provoziert der Vater Mitmenschen durch unübliche Verhaltensmuster, die künstlerische Techniken mit alltäglichem Leben verbinden. Und wie die Bewegungen Happening, Environment oder Fluxus brechen diese Handlungen die Monotonie der gesellschaftlichen Norm, können aber erst im institutionellen Rahmen reflektiert werden.
Mit dieser Publikation eröffnet Joëlle Lehmann einen Raum für fliessende Übergänge zwischen Leben und Kunst, Prozess und Objekt. Die eingeschwärzten Flächen sind einerseits ein abstrahiertes Porträt des Vaters, andererseits ermöglichen sie Gedankenfelder zur Interpretation von Realität. Sie zensieren die Handlungen nicht mit konkreten Abbildungen, sondern beflügeln die Imagination durch die verdeckten Bezeichneten. Die BetrachterInnen entwickeln Relationen zwischen den Gegenständen und können so offene Fragen stellen. Obwohl das Lichtbild absent ist, versteht
Lehmann 100 things stolen by my father als fotografische Arbeit, sowohl
methodisch als auch inhaltlich: Mittels der Fotografie eignet sich die Künstlerin
eine Thematik an und diskutiert Grenzen und Möglichkeiten des Mediums.
Gemeinsam ist ihren Arbeiten, dass die Perspektive auf die Welt
mehrdimensional gezeigt wird. Lehmann involviert ihre Familie oder
Passanten, um das Leben als verworrene Realität zu zeigen. Um Letzteres zu
demonstrieren, widersetzt sich die Künstlerin in dieser Arbeit dem intuitiven
Abbildungsprozess und behält die Fotografien unter Verschluss. Die
BetrachterInnen werden eingeladen, das Porträt mit Hilfe der schwarzen
Vierecke weiterzudenken.
Mehr Informationen über Joëlle Lehmann (*1982 in Biel/Bienne):
www.joellelehmann.ch
Text:
Salome Hohl