Dass Sehen und Erkennen zweierlei sind, dass ich auf Anhieb kaum sehe, was ich zu kennen meine, habe ich spät durch Diether Schmidt (1930-2012) begriffen. In einem seiner bündigen Dia-Vorträge zu den piktografisch verknappten Tuschzeichnungen aus den letzten Lebensjahren von Paul Klee ging mir auf, wie wenig mir aufgeht, wenn ich mich von meinen unbedacht übernommenen, wie für ewig eingeschliffenen, auf zeitlose Gültigkeit versessenen Seh- und Denkgewohnheiten nicht löse. Und die von Vor-Sicht verklebten Lider nicht aufbekomme, wenn ich die Einzelheiten des zeitgeschichtlichen und politischen Hintergrunds ignoriere, vor dem entstand, was ich betrachte.
Allein auf mich gestellt, sehe ich – Farben und Konturen ausgenommen – nichts wirklich deutlich. Undeutbar bleibt mir sein Wesen. Klees bündige Formulierung „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“ hat mir immer wieder zu denken gegeben. Und taugt mir – zwischen Spreu und Weizen – zum Kriterium, das die nachformende Bildnerei ebenso einschließt wie die abstrahierende, die von der Nachformung absieht. Das sokratische „Sprich, dass ich Dich sehe“ setzt voraus, dass ich hören kann und dass mir – ob kreischend, lärmend, betörend raunend oder flüsternd – überhaupt ins Ohr dringt, was dringlich gesagt und gesehen werden will. Auch im Kunstgetriebe kursiert der Begriff von der „andachtsvollen Stille“, die sich breitmacht, wenn das Begreif- und Sagbare ausbleibt. Der in zahlreichen Feier- und Einweihungszeremonien meist nur vermeintlich gemeinte Wieland Schmiedel weiß ein Lied davon zu singen.
…
VI
Wielands Arbeiten berühren durch formale Strenge und den Verzicht auf deklamatorische Gesten. Die von Angelus Silesius im „Cherubinischen Wandersmann“ überlieferten Zeilen „Mensch, werde wesentlich; / denn wann die Welt vergeht, / so fällt der Zufall weg, / das Wesen, das besteht“ kerben die Türbalken seiner Werkstätten, grundieren sein Handeln, bestimmen die Richtung seines Denkens und Gestaltens.
Offenkundig reagieren barbarische Gemüter empfindsamer und allergischer als eingeschworene, verbeamtete Ästheten auf die Anmutung einer Haltung, die das Menschenmögliche an Würde und Selbstbesinnung gelassen vor Augen führt. Die nunmehr zweimalige Zerstörung der Kore im Parchimer „Courage“-Mal von 2010 erhärtet diesen Verdacht. Und verdeutlicht, wie sehr Schmiedels Arbeiten im öffentlichen Raum als Einspruch und Widerrede begriffen werden. Auch im Kontext politisch gewendeter Zeiten, in denen sich das Stammtischniveau mittlerweile auf Tischhöhe gesellschaftlich Hoch- und Bessergestellter hat bringen lassen.
aus Jürgen Rennert: ANDACHT DENKEN. Zu einer Hin- und Rückschau auf Schmiedels Arbeiten.
Die kleine, bibliophil gestaltete Publikation mit dem Text des Berliner Schriftstellers Jürgen Rennert und mit einer Serie von Fotografien, die Hans-Wulf Kunze am 25. Oktober 2012 in den Ateliers und im Freiraum um die Rönkedorfer Mühle in Crivitz aufgenommen hat, erschien anlässlich der Ausstellung „andacht denken. Wieland Schmiedel. Werke 1978 bis 2012“, die vom 7. Dezember 2012 bis 8. März 2013 im Forum Gestaltung Magdeburg, stattfand.
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32 Innenseiten mit jeweils 16 Foto- und 16 Textseiten auf verschiedenem Papier. Umschlag in Siebdruck auf schwarzem Conqueror von Römerturm
Format 26 x 21 cm, aufgeschlagen 26 x 42 cm, Klammerheftung
bilbiothek forum gestaltung 08
- Veröffentlicht am Donnerstag 19. Dezember 2024 von Forum Gestaltung
- ISBN: 9783981365252
- 32 Seiten
- Genre: Bildende Kunst, Kunst, Literatur, Sachbücher