Anna Seghers

Eine Biographie. 1900-1947

von

Das Werk und das Leben von Anna Seghers sind offen und sollen es nach diesem ersten Versuch einer längeren Biographie erst recht sein. Sie lassen sich auf verschiedene Weise sehen und interpretieren, je nach Betrachter und historischem Moment. Das gilt selbstverständlich für alle Schriftsteller, ganz besonders aber für Seghers, die außerordentlich sensibel für ihre Zeit war und mit ihrer Arbeit auf sie wirken wollte. Als Deutsche, Frau, Jüdin, Kommunistin und vor allem als Schriftstellerin setzte sie sich damit vielfältigen Erwartungen und Widersprüchen aus, zumal sie „das ganz und gar Neue“ suchte und dem Uralten, dem Mythos und dem Märchen, verhaftet blieb. Ihr Leben war ein langes, interessantes und oft – wie konnte es in ihrem Jahrhundert und bei ihrer Herkunft anders sein – sehr schweres, um so mehr bestand sie auf ihrem und der Menschen Anspruch auf Freude. Ihre Arbeit war ihr, seit sie in der Jugend mit dem Schreiben begann, Halt und Ziel.

Anna Seghers machte es Biographen bekanntlich nicht leicht, da sie sich persönlichen Fragen gegenüber höchst reserviert verhielt, offene Autobiographie mied und privat ebenfalls diskret war. Auch die Zeit und die Kontexte, in denen sie lebte, halfen nicht: vieles ging verloren, manches wurde verschwiegen oder verändert. Trotzdem ist der Augenblick für eine Biographie jetzt günstig: es gibt neues Material und Quellen, die früher nicht zugänglich waren. Das soll aber nicht heißen, daß ich nach vielen Jahren Forschung so viel über Seghers erfahren hätte, wie ich gern wissen würde, um diese komplexe Frau und Autorin, in der so vieles von den Erschütterungen des zwanzigsten Jahrhunderts zusammenkommt, so gut zu kennen, wie ich möchte. Es gibt viele weiße Flecken in dieser Lebensgeschichte und wird sie vielleicht reichlicher als in anderen immer geben.

Aus dem Vorwort von Christiane Zehl Romero

Was zählt, sei das Werk, nicht die Person. Damit wehrte Anna Seghers zeit ihres Lebens Fragen nach Details ihrer Biographie ab. Viele Spuren hat sie bewußt verwischt, andere legte sie mit Bedacht. Sie, die bedeutendste deutsche Erzählerin ihres Jahrhunderts, war wohl auch eine der verschwiegensten. Nach den heftigen, kontroversen Diskussionen um ihre Person wird es Zeit für einen neuen Blick auf sie und dafür, ihr Bild von den vereinfachenden Wahrheiten zu entlasten, die in vergangenen Jahrzehnten aufgeschichtet wurden. Dazu gibt es neue, bislang noch nicht erschlossene Quellen. Die an der Tufts University lehrende Literaturwissenschaftlerin Christiane Zehl Romero unternimmt die Suche nach den kenntlichen und nach den verborgenen Spuren im Werk und in den Lebensumständen von Netty Radvanyi, geborene Reiling. Sie ist die erste, die sich intensiv auch mit den Prägungen der Kindheit und Jugendzeit beschäftigt und überraschende Zusammenhänge aufdeckt. In den Jahren der Verwandlung von Netty Reiling in Anna Seghers erlebte die junge Frau eine Intensität des geistigen Austausches, eine Radikalität der Fragestellungen und eine Vielfalt der Ideen, von denen die dogmatische Enge und die Scheindiskussionen späterer Jahren besonders abstechen mußten. Daß sie diese höchstens am Rande und nie prinzipiell anfocht, verweist wiederum auch auf Einflüsse und Konzepte, denen sie in ihrer Studienzeit begegnete.