Armenhauskinder

von

„Henni Lehmann hat vor Jahren einen Roman geschrieben: ‚Frauen aus dem Alten Staden Nr. 17′, […] der in den grauen Häusern der Armut spielt und in niedrigen Stuben mit trüber, hoffnungsloser Luft, in denen vom Schicksal Geknechtete still einem frühen Tod entgegenleben. Ein paar Personen aus dem alten Staden begegnen uns auch in dieser neuen Erzählung, die im Armenhaus einer kleinen Stadt spielt. Also Armeleutegeschichten mit Armeleutegeruch, wie ja wohl von den anderen, die nur die Sonnenseite des Lebens kennen, naserümpfend gesagt wird. Und gerade diese Hochmütigen und Erbarmungslosen sollen die ‚Armenhauskinder‘ lesen, gerade für sie hat Henni Lehmann den Roman geschrieben. Das Buch ist wie ein hohes Lied der Liebe zu den Enterbten des Glücks […]. Von den neun Kindern Braunschweig, denen der Krieg den Vater und die wirtschaftliche Not in der Heimat die Mutter genommen hat und die nun in das Armenhaus kommen, erzählt Henni Lehmann. Von den mannigfaltigen Schicksalen der elternlosen Schar erzählt sie, still und unaufdringlich. Und von den Schicksalen der Alten im Armenhaus erzählt sie, deren lange Lebensgeschichte in so seltsamer Weise mit dem Schicksal der neun Waisen verknüpft ist. Diese Szenen aus dem Armenhaus sind mit einer solchen plastischen Deutlichkeit hingesetzt, daß man unter den Insassen […] wandert und wie sie in den kleinen niedrigen Zimmern zu Hause ist.“ (Vorwärts, 19.10.1924)
Henni Lehmann (1862–1937) ist heute vor allem als Mitbegründerin (1922) des Hiddenseer Künstlerinnenbundes bekannt. Angesichts der Entrechtung und Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime ging die aus einer jüdischen Familie stammende engagierte Sozialdemokratin in den Freitod. Im Gedenkjahr an den Beginn des Ersten Weltkrieges erscheint diese berührende Erzählung – neben den „Frauen aus dem Alten Staden Nr. 17“ – erstmals nach 90 Jahren wieder in einer Neuausgabe.