Die ehemalige Reichsabtei Corvey ist eine der bedeutenden Kulturstätten des christlichen Abendlandes. Zeitgenossen nannten sie „Das Wunder Sachsens und des Erdkreises“. Seit annähernd 1200 Jahren wird hier gebetet und gebaut, werden hier Kunstwerke geschaffen sowie wertvolle Bücher geschrieben und gesammelt. Über die Jahrhunderte hinweg waren und sind, trotz aller Krisen- und Kriegszeiten, in Corvey kulturelle und religiöse Traditionen unmittelbar zu erfahren.
Die Ursprünge des einstigen Benediktinerklosters gehen auf die Eroberung (Alt-)Sachsens durch Karl den Großen (reg. 768-814, Kaiserkrönung 800) zurück. Der fränkische Herrscher aus dem Geschlecht der Karolinger bezwang die Sachsen in einem über mehr als 30 Jahre währenden Krieg (772-804) auch mit der Absicht, die dort beheimateten „heidnischen“ Stämme zu missionieren. Daher wurden in den unterworfenen Gebieten neue Bischofssitze (z. B. Hildesheim, Halberstadt) und geistliche Stiftungen gegründet. Noch zur Zeit Karls des Großen entstand auch das Projekt einer Klostergründung in Sachsen. Das Vorhaben konnte jedoch erst durch den Nachfolger Karls, Ludwig den Frommen (reg. 813/14-840), umgesetzt werden. Im Rahmen einer 815 in Paderborn einberufenen Synode verkündete Ludwig die Gründung des Klosters an einem Ort östlich der Weser. Dorthin, nach Hethis (bei Neuhaus im Solling), gelangten 816 die ersten Mönche. Sie kamen aus der alten westfränkischen Benediktinerabtei Corbie an der Somme (Picardie) und gründeten in Hethis eine von ihrem Mutterkloster abhängige Propstei. Die ungünstige Lage der Propstei führte im Jahr 822 zur Verlegung an den heutigen Ort an der Weser, der seiner Zeit als „Villa Huxori“ bezeichnet wurde. Damit entstand hier das Kloster „Nova Corbeia“, das neue Corbie, dessen Name sich im Lauf der Zeit zu „Corvey“ wandelte.
Als erster Abt leitete ein Vetter Karls des Großen, Adalhard von Corbie, das Weserkloster. Eine der Persönlichkeiten der ersten Stunde war auch der Hl. Ansgar. Der „Apostel des Nordens“ gründete bereits 823 die Corveyer Klosterschule und ging später als bedeutendster Missionar Nordeuropas und Erzbischof von Bremen in die Geschichte ein. Der Grundstock für die einst berühmte Klosterbibliothek kam ebenfalls aus Corbie. Sie wurde mit Werken aus der Corveyer Schreibstube weiter ausgebaut. 826 erfolgte mit der Loslösung von Corbie der Schritt zum eigenständigen Benediktinerkloster, das dem Hl. Stephanus geweiht wurde. 833 erwarb Corvey, als erster Ort östlich des Rheins, das Münzrecht. Ein früher Höhepunkt des Klosterlebens war die Überführung der Gebeine des Heiligen Vitus aus der Abtei St. Denis (bei Paris) nach Corvey im Jahr 836. Das feierliche Ereignis zog zahlreiche Menschen aller Stände nach Corvey. Der Hl. Vitus (Veit) war als Märtyrer um 304 den Christenverfolgungen des römischen Kaisers Diokletion zum Opfer gefallen. Er wurde nun zum Schutzpatron der Sachsen und zählte, als einer der Vierzehn Nothelfer, zu den volkstümlichsten Heiligen des Mittelalters. Corvey entwickelte sich zum Wallfahrtsort. Das Vitusfest wird noch heute begangen.
Schenkungen und Stiftungen einflussreicher und vermögender Personen ließen Corvey zu einem der reichsten Klöster Mitteleuropas heranwachsen. Damit war auch die Grundlage für eine großartige Bautätigkeit geschaffen. Die erste steinerne Klosterkirche wurde noch im 9. Jahrhundert mehrfach umgebaut, erweitert und kostbar ausgestattet. Mit dem 885 geweihten Westwerk war die frühmittelalterliche Klosteranlage vollendet. Das Westwerk ist bis heute weitgehend erhalten geblieben und ist als einziges Baudenkmal dieser Art in seiner Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen. Die erste Blütezeit der Reichsabtei währte über zwei Jahrhunderte. Reichsabtei bedeutete, dass Corvey in weltlichen Fragen unmittelbar dem Kaiser unterstand. Das lässt sich auch anhand der zahlreichen Besuche von Königen bzw. Kaisern des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation aufzeigen. Die Herrscher besaßen keine ständige Residenz, sondern zogen kontinuierlich durch das Land und bezogen mit ihrem Hofstaat in den königlichen Pfalzen, den Bischofssitzen und in den Reichsklöstern Quartier.
Im 10. Jahrhundert wirkte in Corvey eine weitere historische Persönlichkeit, Widukind von Corvey (um 927-973). Widukind, ein Zeitgenosse Kaiser Ottos des Großen, verfasste die „Res gestae Saxonicae“ (Geschichte der Sachsen). Die Sachsengeschichte ist eine selbstbewusste Schilderung des Stammesherzogtums und seiner Eingliederung in den frühen deutschen Staat. Dieser wurde zu Widukinds Zeit von Otto dem Großen, einem bedeutenden Herrscher aus sächsischem Adelsgeschlecht, regiert.
Im 11. Jahrhundert bemühte man sich in Corvey, an den damals aktuellen, klösterlichen Reformbewegungen mitzuwirken. Dies führte einerseits zu Auseinandersetzungen innerhalb des Konvents, andererseits konnte Corvey seine führende geistliche Stellung in der Region weiterhin behaupten. Zahlreiche neue Klostergründungen gingen von Corvey aus. Eine letzte hochmittelalterliche Blütezeit erlebte das Kloster unter dem Abt Wibald von Stablo (amt. 1146-58). In dieser Zeit wurde das karolingische Westwerk zu einer romanischen Doppelturmfassade umgebaut. Um das Kloster Corvey herum war inzwischen eine Stadtsiedlung entstanden. Hier entstanden weitere kirchliche Einrichtungen wie die Propstei „Niggenkerken“ (Neue Kirche) im Jahr 863 und im 12. Jahrhundert eine Marktkirche. Im Norden der Siedlung wurde um 1150 noch eine Propstei, das von Corvey abhängige „tom Roden“, gegründet. Die Fundamente von tom Roden sind archäologisch ergraben und sichtbar gemacht. Das benachbarte Höxter sah die Stadt Corvey als Konkurrentin und ließ sie, gemeinsam mit Truppen des Paderborner Bischofs, 1265 zerstören.
In den Jahrhunderten des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit ist ein stetiger Niedergang der Abtei zu verzeichnen, der in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges (1618-48) gipfelte. Die 1265 zerstörte Stadt war längst zu einer dörflichen Siedlung herabgesunken. 1634 verwüsteten kaiserliche Truppen nach der Belagerung Höxters („Blutbad von Höxter“) auch Corvey, dabei wurde die berühmte Klosterbibliothek größtenteils geraubt oder vernichtet. Nach dem Krieg lagen Höxter und Corvey darnieder.
- Veröffentlicht am Sonntag 30. Oktober 2011 von Kotyrba, Sándor
- ISBN: 9783942712187
- 64 Seiten
- Genre: Architektur, Kunst, Literatur, Sachbücher