Arnhold & Kotyrba Architekturführer

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Eine Darstellung der Veränderungen, die eine Stadt im Verlauf des letzten Jahrhunderts erfahren hat, ist immer lohnenswert und spannend. Die positive Aufnahme, die der Band „Stadtbild im Wandel – Braunschweig 1893 und 2010“ gefunden hat, ist eine Ermutigung zu einer weiteren Publikation dieser Art. Während die historischen Fotografien der ersten Veröffentlichung sämtlich aus der Zeit um 1890 stammen, finden sich in Band 2 Darstellungen aus unterschiedlichen Jahren und Jahrzehnten. In diesem Buch überwiegen in den Jahren um 1930 entstandene Fotografien. Einige Abbildungen gehen allerdings bis in die 1860er Jahre zurück und gehören zu den ältesten Architekturfotografien in Braunschweig.

Braunschweig verfügte bis zu seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg über einen der schönsten und bedeutendsten historischen Stadtkerne, nicht nur in Deutschland, sondern nördlich der Alpen. Der mittelalterliche Stadtkern, der bekanntlich aus fünf Weichbilden (Teilstädte mit eigenen Ratsverfassungen) bestand, gehörte zu den größten im deutschen Sprachraum. Dieser Stadtkern wurde und wird von einem zu Beginn des 19. Jahrhunderts gestalteten Promenadenring umgeben, der zu den schönsten seiner Art gezählt werden kann. Darüber hinaus entstanden auch in den gründerzeitlichen Stadterweiterungsgebieten zwischen 1880 und 1914 vielfach Neubauten auf handwerklich und gestalterisch hohem Niveau. Die Entwicklung der Stadt konnte zwiebelringartig abgelesen werden.

Die meisten Fotografien in diesem Band entstanden in der Epoche der Weimarer Republik (1919-1933). Damals existierten extrem widerstrebende gesellschaftliche und politische Tendenzen. Eine bisher ungekannte Freiheit beflügelte Kunst, Wissenschaft und technische Entwicklung. Auf der anderen Seite stand eine rückwärtsgewandte Verachtung der ungewohnten Demokratie. Viele Menschen konnten sich mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg und den Bedingungen der damaligen Siegermächte (Versailler Vertrag) nicht abfinden. Der wilhelminische Obrigkeitsstaat und das Gefühl, vor dem Weltkrieg einer geachteten und gefürchteten Großmacht anzugehören, hatte zahlreichen Deutschen den Halt gegeben, der ihnen nun zu fehlen schien. Hinzu kamen die großen Krisen, welche die Weimarer Zeit an ihrem Anfang und am Ende schüttelten. Auf die große Inflation von 1923 folgte, nach den „Guten Jahren“, ab 1929 eine katastrophale Wirtschaftskrise. Ihre Folgen erfassten gerade auch Braunschweig.

Leider entwickelte sich die Löwenstadt zu einer Hochburg der politischen Radikalisierung. Die Nationalsozialisten saßen seit 1924 im Braunschweigischen Landtag. Sie wurden hier bereits 1930, erstmals im Deutschen Reich, an einer Regierung mit bürgerlichen Parteien beteiligt. Im Oktober 1931 paradierten am ehemaligen Residenzschloss 100.000 Angehörige rechtsradikaler Formationen (SA, Stahlhelm, u.a.) vor Hitler. Schließlich wurde der aus Österreich stammende Hitler 1932 in Braunschweig zum deutschen Staatsbürger ernannt, um seine Kandidatur für die Wahl zum Reichspräsidenten zu ermöglichen. Mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler Anfang 1933 wurde sein Braunschweiger Vasall, Dietrich Klagges, zum Ministerpräsidenten. Dieser entfaltete in Stadt und Land eine wilde Verfolgung politischer Gegner.

Der wirtschaftliche Aufschwung und die Erfolge des NS-Regimes führten zu einer weitgehenden Akzeptanz in der Bevölkerung. So begann in Braunschweig schon 1933 eine Stadtsanierung (Bereich Weberstraße/Wollmarkt), um die immer noch katastrophalen Wohnverhältnisse in den alten Stadtvierteln zu verbessern. Die Region sollte zu einem industriellen Schwerpunkt ausgebaut werden, wovon die Stahlwerke in Salzgitter und das Volkswagenwerk zeugen. Die meisten dieser Aktivitäten standen im Zeichen der Aufrüstung.

Eine große Mehrheit der Deutschen konnte nicht ahnen, dass sie, im von den Machthabern prophezeiten „Tausendjährigen Reich“, einer Jahrtausendkatastrophe entgegen gingen. Die Tage der historischen Stadt waren in Braunschweig wie in vielen Orten Europas gezählt. Der Krieg stand im Zentrum der NS-Ideologie und in der absurden Anschauung des „Führers“, der einen ganzen Kontinent zum Spielball seiner Begierden machte. Streitmächte eines großen Teils der Weltgemeinschaft waren nötig, die Agression Nazideutschlands in die Schranken zu weisen. Wesentlicher Bestandteil der westalliierten Kriegführung war ein uneingeschränkter Bombenkrieg. Ihm fielen in Deutschland über 500.000 Menschen zum Opfer. In den meisten größeren Städten wurden die historischen Zentren bewusst zerstört. Damit einher gingen unermessliches Leid und der Verlust eines Kulturguts, das der gesamten Menschheit unwiederbringlich verloren ging.

Der Wiederaufbau Braunschweigs erfolgte in erster Linie nach Maßgabe seinerzeit moderner Stadtvorstellungen. Wichtig erschienen eine flüssige Verkehrsführung und die Auflockerung des Stadtkörpers. Wie in anderen Städten, wurden wichtige Plätze und Ensembles historischer Gebäude als Traditionsinseln erhalten oder wiederhergestellt. Zahlreiche aufbaufähige Ruinen bedeutender Bauten wurden dagegen beseitigt, so 1960 das Residenzschloss.

Während der 1950er Jahre entstanden die eleganten Neubauten der „Braunschweiger Schule“, die landesweit beachtet wurden und heute einen selbstverständlichen Teil des gebauten Erbes in Braunschweig darstellen. Mit großmaßstäblichen und grobschlächtig gestalteten Architekturen der folgenden Jahrzehnte wurden dem Stadtbild vielfach schwere Wunden geschlagen. Zu einer ganzheitlichen Stadtbaukunst hat man bis heute nicht gefunden.