auch elefanten weinen

gedichte 1

von

hilf
los

nicht einmal
mehr ein buch stabe flößt

ergebnisorientiert aber müssen
sich alle jene buch oder staben sogar be nehmen

das könnte
fast ein gedicht sein
notfalls sich wehren

Dieses kleine Gedicht, Schlichte selbst spricht bei seinem Werk von Nicht-Gedichten, eher Gedanken- oder Traumfetzen, Aphorismen, dokumentiert die Funktion seiner Gedichte. Der Autor befindet sich angesichts einer sich ihm entfremdenden Welt eines kulturellen und sozialen Untergangs (gewordener gewöhnungszustände) im Zustand einer Hilflosigkeit. Gewesene Sicherheiten bis in den kleinsten Bereich lösen sich auf, werden von ihm misstrauisch beäugt, hinterfragt, seziert, dividiert. Wörter werden ihrer Großschreibung entledigt, häufig in Wortfetzen zerlegt, um sie in ihrer eigentlichen Bedeutung erfahrbar zu machen, neuen Bedeutungen zuzuführen. Nein, nicht der Versuch einer neuen, sinnerfüllenden Ideologie treibt ihn an, vielmehr der Versuch eigener sinnlicher und gedanklicher Existenzrettung.
Dabei gelingen ihm ‚Nichtgedichte’ in einer Bandbreite von elementarer ästhetisch-romantischer Schönheit und dadaistischer Zerrissenheit, ein Spiegelbild grundlegender gesellschaftlicher Situation des Individuums im Zeitalter einer durchinstrumentalisierten Ökonomisierung, in der jegliches menschliche Gefühl ergebnisorientierter Vermarktung unterliegt und seiner humanen Bedeutung beraubt wird, ohne dass das Individuum die Suche nach sich selbst und seinem Verhältnis zur Gesellschaft selbst aufgeben kann. Eine Lähmung, die Joachim Schlichte sprachlich aufzuheben sucht, sich dabei selbst misstrauend, ob er nicht wieder den gesellschaftlichen Strukturen bzw. Fremdbestimmungen unterliegt. Bemerkenswert, dass er dabei nicht in den Strudel ästhetischer Abstraktheit gerät, vielmehr der alltäglichen Wirklichkeit immer verhaftet bleibt.

all tag

gelähmt im alltags nichts
im nichts des alltags
ohne all
ohne tag
schleppten namen sich
jeder trug die seinen
jede trug die ihren
durch die leere
all gegen wärtiger verlorenheit
ohne all tag
alltag suchend

Perfekte Präzisierung in der Komposition eines jeden Nicht-Gedichts in Gedankenführung und sprachlich musikalischer Hinsicht verstehen sich als eingelöste Aufgabe bei Schlichte von selbst.
Schlichte bricht unsere alltäglichen Sichtweisen mit der brutalsten Form der Wirklichkeitsbrechung: der erhaltenen kindlichen Naivität, die aus einem ursprünglichen Sehnsuchtsverhalten gespeist wird.

ich bin kind geblieben
welch glueck
ists glueck
kind zu sein in sehnsucht
nach einem kuss?

Die Zerstörung lieb gewonnener Alltagswirklichkeit durch die sehnsuchtsvolle Radikalität kindlicher Ursprünglichkeit – bereits der erste Band der Gedichte von Joachim Schlichte überzeugt in inhaltlicher und formaler Hinsicht, verleiht dem Gedicht als Nichtgedicht eine neue, radikale Bedeutung.