Unsere Vitrine, dieses Schränkchen mit der gläsernen Front, das in einer dieser in der Taborstraße gepackten heiligen Kisten aus Wien gekommen war, erfüllte bei uns den Zweck eines Schreins der Andenken. Die Vitrine ist ein großes, über 1,80 Meter hohes Möbelstück im Biedermeierstil, das aus dem 19. Jahrhundert stammt und aus hellem und dunklem Mahagoniholz besteht. Sie ist ein Stück Wien, kein Memento, mehr ein Kubikmeter Wiener Erde, oder, um es metaphorisch auszudrücken, die Spitze eines Eisbergs an Erinnerungen in unserem Wohnzimmer. Sie beinhaltete immer eine geheimnisvolle Sammlung von Sachen, die ein Leben repräsentierten, das in die Vergangenheit eingepackt worden war, ein Leben mit Silbertabletts, Kristallvasen, Porzellanfiguren und zierlichen Mokkatassen und Milchkännchen. In die dunkle Vitrine gepfercht erfüllten sie eine geheime Funktion als Erinnerung an, Investition in, Versprechen von und Anzeichen für ein besseres Leben in der Vergangenheit und in der Zukunft. In unserer unsicheren Welt stellten die Vitrine und ihr Inhalt eine gewisse konstante Größe dar. Die Wohnung mochte gewechselt werden, sogar die Stadt, der Bezirk und das Land. Der Kühlschrank mochte moderner werden. Ein Fernseher mit Bildern von überall mochte auftauchen. Ich mochte älter werden, eine Schwester bekommen und mich im Verhältnis zur Nachbarschaft verändern. Doch die Vitrine harrte aus. Von Zeit zu Zeit wurden Gegenstände zu besonderen Anlässen herausgenommen. Unerklärlicherweise kippten kleine Stücke um oder wechselten ihren Platz. Doch die Gesamtheit, die Anordnung blieb, wie sie war. Sie verkörperte eine Welt mit anderen Gewohnheiten, anderen Eigenschaften, und insbesondere die Tatsache, dass es eine andere Welt gegeben hatte. Und sie war der Beweis dafür, dass meine Eltern dieser Welt angehört hatten. Die Vitrine war mein erstes Museum.
- Veröffentlicht am Montag 2. Oktober 2006 von Drava
- ISBN: 9783854354819
- 312 Seiten
- Genre: Belletristik, Erzählende Literatur