„Unvergesslich wird mir die Jugenderzählung bleiben, in der Albert Steffen – einer der verehrungswürdigsten Dichter der Schweiz – schildert, wie es ihm einmal gelang, einen körperlich stärkeren Kameraden im Ringkampf zu besiegen. Da dieser Knabe geistig schwach entwickelt war, wurde er nicht in die höhere Klasse versetzt. Das quälte den jungen Riesen derart, dass er sich von seinen früheren Gespielen abwandte. Höhnisch mit dem Mund lächelnd, vergrub er sich in finstere Einsamkeit. Einmal aber, auf der staubigen Landstrasse, warf er sich plötzlich auf Steffen, um ihn zu bodigen. ‚Du sollst nicht glauben, dass du der Stärkere bist !‘, knirschte er. Durch einen Zufall oder aus wilder Qual wurde er jedoch zum zweitenmal besiegt. ‚Wie er so vor mir lag‘, fährt der Erzähler fort, ’sein Gesicht hart unter dem meinen und ich in sein vorquellendes Auge blickte, schluchzte ich auf und lief, so schnell ich konnte, fort, – nicht vor seiner Rache, nein, vor meinem Sieg !‘
Der Mann, der über seinen Sieg weint: er ist eine der vielen Gestalten, die Albert Steffen mit der sicheren Herrschaft des Wortes heraufbeschwört. Wie schön ersteht der weissbärtige Grossvater, der auf der Laube gelassen über die Sintflut spricht, während der unablässige Regen die nahen Felder in eine Wasserwüste verwandelt ! Wie humorvoll-innig schildert der Dichter den schwerfälligen, beleibten Müller, der sich beim Glatteis auf ihn stützte, so daß der Fünfjährige unter der ungewohnten Last fast zusammenbrach! Als sie beide tatsächlich stürzten, schnaubte es unter ihm: ‚Herrgottdonner !.‘ ‚ Mir war als träfe mich der Fluch. Betäubt lief ich davon. Künftig wich ich ihm schon von weitem aus.‘
Auch die anderen Jugenderzählungen sind geradezu meisterlich geformt. Die Portraits des Vaters und des Knechts, der Lehrer und der Mitschüler besitzen jene sinnliche Fülle, die Albert Steffens geistige Meditationen manchmal vermissen lassen. Unter seinen pastellartigen Miniaturen findet man auch erkenntnistiefe über Hodler, Picasso, Rilke und Cézanne. Überhaupt sind es die Erkenntnisse, die diesen Dichter produktiv machen. Das neue Christuserlebnis hat Steffen zu Rudolf Steiner geführt, in seinem Sinn leitet er seit dessen Tod das Goetheanum in Dornach. Wer diesem nobeln Schriftsteller zugetan ist, wird das Buch der Rückschau sublim, ja, bezaubernd finden: dichterisch und menschlich, wo immer es der Leser anrührt. Schon die kleinen Tagebuchnotizen sind Kunstwerke im Verhüllen und Enthüllen. Notieren wir eine einzige Eintragung: ‚Der rückenmarkschwindsüchtige Kellner. Er gab mir beim Zahlen ein Zehnmarkstück statt eines Zehnpfennigstücks zurück. Sein Blick. Mein Blick. Vertrauen für immer.'“. (-ee- in „Die Weltwoche“. Zürich 19.Mai 1939.)
- Veröffentlicht am Freitag 17. Dezember 1976 von Schöne Wissenschaften
- ISBN: 9783858890986
- 284 Seiten
- Genre: Belletristik, Essays, Feuilleton, Interviews, Literaturkritik