Das Paar schien völlig miteinander verschmolzen und die Spannung des Augenblicks wurde noch dadurch erhöht, dass sie mit beiden Beinen auf festem Brückengrund standen, der Abgrund in Form des dunklen Mühlengrabens aber unmittelbar hinter ihnen
lauerte. Der Kuss schien ewig zu dauern; beide genossen den Augenblick und um sie herum versank die Welt. Claudia löste das Bild als erste auf, öffnete wieder den Blick und meinte, ein wenig unromantisch: »Warum gackern die Enten so laut?«
»Enten schnattern« wurde sie belehrt, »aber Du hast recht, sie machen heute ziemlich viel Lärm! Und der Schwan – der hockt auf einem Inselchen, das ich bislang auch noch nicht gesehen habe.«
Beide liefen von der Brücke hinunter zum Ufer des Mühlengrabens, von dort ließ sich das Gewässer besser überblicken. Anders als sonst kamen die Enten nicht futterheischend ans Ufer geflogen, sondern umkreisten weiterhin aufgeregt und laut
schnatternd das neue Inselchen. Auf diesem thronte unverdrossen der Schwan als dessen Eigentümer und gab deutlich zu erkennen, von dort nicht mehr weichen zu wollen. Sein Inselreich schien aber recht fragil und im Mühlenteichgrund noch nicht fest verankert zu sein; gerade jetzt bewegte es sich auf das Ufer zu und ermöglichte dem jungen Liebespaar ein paar deutlichere Einblicke. Claudia rief noch leicht irritiert »Das sieht nach Lederjacke aus!« und ihr Held stotterte »Hosenbein«, bevor beide entsetzt feststellen mussten, dass ihnen unter der vermeintlichen Schwaneninsel ein Paar glanzlose Augen entgegenstierten.
- Veröffentlicht am Montag 15. Februar 2016 von assoverlag
- ISBN: 9783938834800
- 198 Seiten
- Genre: Belletristik, Erzählende Literatur