Das fließende Licht der Gottheit

von

Mechthilds von Magdeburg Fließendes Licht der Gottheit gehört zu den herausragenden Werken der mittelalterlichen deutschen Literatur. In ungewöhnlicher Kühnheit wird hier, angeregt durch die erotische Bildsprache des Hohenliedes, die Begegnung Gottes und der liebenden Seele in der Unio mystica als Vereinigung von Braut und Bräutigam umschrieben. Neben solchen Passagen der Beseligung durch Gott und den Klagen über sein Fernsein finden wir im Werk aber auch andere Abschnitte, die nicht weniger kühn erscheinen: geschliffen formulierte Anklagen der ›ungelehrten Frau‹ gegen unwürdige Vertreter des geistlichen Standes. Zwischen diesen beiden thematischen Polen behandelt das Werk eine Fülle von Themen, wobei sich die Autorin sehr unterschiedlicher Textsorten bedient oder durch ungewöhnliche Kombinationen neue schafft, beide geprägt von Mechthilds erstaunlicher sprachlicher Kreativität.
Innovativ ist das Fließende Licht auch als frühes und in seiner Form einmaliges Werk der blographischen Gattung: nicht als Lebensbeschreibung angelegt und geplant, aber durch lebensbegleitendes Schreiben dazu geworden. Das Buch ist über mehrere Jahrzehnte hin (etwa zwischen 1250 und 1280) entstanden, einem Zeitraum, währenddessen sich, nicht zuletzt in Auseinandersetzung mit den Lesern, Mechthilds Schreiben änderte. In seiner Gesamtheit bietet das Werk die Darstellung eines aus ganz persönlichen Voraussetzungen, Möglichkeiten wie Schwächen, in äußerster Anspannung bewältigten Lebens. Diese Einmaligkeit findet ihren Ausdruck in einem ›persönlichen Erfahrungsstil‹ und einer ›biographischen Struktur‹.
Band 19 der Bibliothek des Mittelalters bietet einen neu bearbeiteten und kommentierten mittelhochdeutschen Text sowie eine textgetreue neuhochdeutsche Übersetzung des Fließenden Lichts. Der Text unterscheidet sich von den bisherigen Ausgaben durch eine jeweils andere Gewichtung der Haupthandschrift Einsiedeln 277. Die Übersetzung verbindet Lesbarkeit mit Texttreue. Die erstmalige Präsentation von Mechthild-Text und -Übersetzung in einem Band erleichtert dem Leser den Zugang zum Original und verdeutlicht zugleich die Distanz der mittelalterlichen Bildwelt zur Denkweise der Moderne. – Neue Wege beschreitet auch der Kommentar, der sprachlich schwierige Stellen erläutert, Sachfragen klärt, Mechthilds Metaphorik deutet, die Entwicklung ihres Denken und Schreibens nachzeichnet und den Entstehungsprozeß des Fließenden Lichts verfolgt. In der Einheit von Text, Übersetzung und Kommentar erschließt sich so das erste deutschsprachige Werk der Frauenmystik, dessen Gestaltungskraft und Empfindungstiefe in der Folgezeit nie wieder erreicht wurden.