Das Märchen von der Königstochter Sinhold

Jugenderzählung

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Michael Bauer, Lehrer und Erzähler im 19. Jahrhundert aus der Pfalz erzählt hier von einem Königssohn, der herangewachsen war und stark genug, dass er selbst ein Reich verwalten konnte. Der König sagte eines Tages zu ihm: „Ich werde immer schwächer und du wirst immer stärker. Es ist billig, dass du die Regierung auf dich nimmst. Ich will mit dir das Land umreiten und dir alle Grenzen zeigen. An dir wird es dann sein, zu sorgen, dass dir kein böser Nachbar jemals ein Stück des Reiches entreiße.“

Viele Wochen hatten sie zu reiten, denn das Reich war groß. Der Sohn kam dabei auch in Gegenden, die er vorher noch nie gesehen hatte. Der Vater aber kannte alle angrenzenden Länder und nannte ihm alle Reiche und Könige.

Einmal ritten sie tagelang an einem steilen Grenzgebirge vorüber. Kein Weg, keine Strasse führte in das Gebirge oder aus ihm heraus. Verwundert fragte der Sohn: „Was ist das für ein seltsames Land zu unserer Linken? Warum hält es so schlechte Nachbarschaft, dass kein einziger Weg herüber und hinüber führt?“

„Das Land jenseits des Gebirges“, erwiderte der Vater, „ist ein verwunschenes Land seit undenklicher Zeit. Schon viele Ritter haben einzudringen versucht und sind nicht zurückgekehrt. Man erzählt, es sei ganz unbewohnt und wüst. Viele Tagesreisen lang sei kein Haus und keine Herberge anzutreffen. Keine Blume blühe, kein Vogel singe, kein jagdbares Tier sei zu finden. Es müsse darum auch jeder Hungers sterben, der es unternehmen wollte, das Land zu erforschen. Auch geht die Kunde von einer verzauberten Königstochter auf einer hohen Felsenburg inmitten des Landes. Aber wer will wissen, ob etwas Wahres an dem allen ist? Die Gelehrten unseres Königsreiches haben niemanden auffinden können, der selber in dem verzauberten Lande war. Alle haben bloß davon gehört. Der letzte Mensch, der jenseits der Berge auf dem Weg dahin gefunden wurde, ist eine alte Waldfrau, die aber nicht ums Leben und nicht um den Tod etwas von den Geheimnissen des Zauberlandes verrät.”

Der junge Königssohn macht sich auf den Weg, in die Welt zu ziehen und das verwunschene Land zu erkunden. Dabei erreicht er die Grenze und sieht aus der Höhe in eine tiefe Schlucht, die tief unten ein paar grüne Bäume zeigt. Das war aber auch das einzige, was in dem wilden Gestein, in dem weiten Grau an Leben und Wachstum gemahnte. Er nahm nach diesen Bäumen die Richtung. Das Gebirge war steil und der Boden voller Geröll. Er musste sein Pferd am Zügel führen und kam nur langsam vorwärts. Es wurde Abend, bis er endlich im Tale anlangte. Unter den Bäumen gewahrte er eine Hütte, roh aus Steinen aufgeführt und mit unbehauenen Felsplatten gedeckt.

Dort findet er fünf Tiere vor, einen Vogel im offenen Käfig, eine Katze, einen Hund, und später im Stall eine Kuh. Der Hund wedelte ihn an und führte ihn ins Nebenzimmer, wo er eine alte Frau schlafend vorfand, allerdings schlief sie einen tiefen Schlaf, da sie tot war.

Nachdem er die Tiere versorgt und bei ihr Totenwache gehalten hat, begräbt er sie nach zwei Tagen und zwei Nächten und begibt sich mit den Tieren zusammen auf den weiteren Weg, am Mittag des siebenten Tages in dem sonst ebenen Land einen himmelhohen Felsen mit einer gewaltigen Burg emporragen sehen. Aber kein Hornruf grüßte von der Zinne, kein Torwart stand am Eingang. Das musste die langersehnte Felsenburg der Königstochter Sinhold sein.

Von zu Hause hatte er noch mitgenommen, was die Alten über das verwunschene Land wußten. Dort soll eine Königstochter sein: „Tausendmal schöner als ein Mensch kann sagen, hundertmal schöner, als ein Maler kann malen!“

Aber auch: „Erlösen kann sie kein Mensch allein, und mehr als einer darf’s auch nicht sein.“