Der Grüne Strahl im Straßburger Liebfrauenmünster

Aus der Welt der Kathedralenerbauer

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Seit 1972 ist eines der wohl größten Rätsel europäischer Architekturgeschichte als »Grüner Strahl« (rayon vert) bekannt. Bis heute wurde der grüne Lichtstrahl auf der Münsterkanzel im Straßburger Liebfrauen­münster nicht er­klärt – offiziell sei er von »zufälliger Natur«. Lichtstrahlen in Sakralbauten wurden weltweit schon immer inszeniert: Der Grüne Strahl bleibt etwas Besonderes. Jedes Jahr zur Tag-und-Nacht-Gleiche erscheint er gegen Mittag als grünes Licht auf der berühmten Predigerkanzel. Obwohl auch ein »Weißer Strahl« zur Wintersonnenwende den Gekreuzigten auf dem oberen Kanzelkorb beleuchtet, löst das Lichtspiel nun schon seit Jahrzehnten Kontroversen aus – »Zufall« oder Absicht?
Das Zusammenspiel zwischen der rekon­stru­ierten Fensterfigur, die den Grünen Strahl er­zeugt, und den Figuren auf der Kanzel wurde bislang noch nicht betrachtet. Dabei fällt eine der beleuchteten Figuren aus dem Rahmen: Der »zweite« Messias.

Die Münsterkanzel (1485) und das zum Teil frühchristlich motivierte Figurenprogramm sind untrennbar mit dem Prediger Johann Geiler von Kaysersberg (1445–1510) verbunden, der in Straßburg die damalige Kirche scharf kritisierte und den Zustand des Klerus beklagte. Nicht umsonst ließ Papst Paul IV. das umfangreiche Werk Johann Geiler von Kaysersbergs 1559 auf den Index der verbotenen Bücher setzen. Die steinerne Kanzel konnte nicht zensiert werden – wohl aber ihr Lichtstrahl: Wurde er bereits 1666 sabotiert? Es wäre nicht das erste Mal gewesen.

Johann Geiler von Kaysersberg kam auf Wunsch des Bürgertums und der Bauhütte – die Kathedralenerbau­er – an das Münster und stand in der gnostischen Tradition der »Alten Kirche«. Der Grüne Strahl beleuchtet auf der Münsterkanzel auch die Marienfigur, die als »Schwarze Madonna« zu entdecken ist und eine Verbindung zur »bekrönten Jungfrau am Himmel« (Virgo) begründet – ihr ist die Notre-Dame Kathedrale in Straßburg geweiht. Ein Lichtstrahl half früher, Astro­nomisches zu berechnen und Astro­logisches sichtbar zu machen – der Grüne Strahl steht für die »Achse der geistig-wissenschaftlichen Welt« des Mittelalters.
Nach theologischer Auffassung der damaligen Welt leuchtet der Grüne Strahl dem Suchenden den Weg auf der symbolischen Wanderschaft ins »Neue Jerusalem« – zu sich selbst (»Menschwerdung«). Seine Botschaft: Erkenne Dich selbst!